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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Post [Story]Weißes Glimmen

    Weißes Glimmen



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    Diese Geschichte ist ein Beitrag für die siebte Ausgabe des Wettbewerbs „Schreim naoch Buchstohm“, einem literarischen „Malen nach Zahlen“.

    Hinter dem Spoiler befinden sich die Buchstabenzuordnungen:

    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: Marcus
    Person B: Jordir
    Person C: Alia, die Magierjägerin
    Person D: Tedros

    Ort A: Jordirs Alchemiestube
    Ort B: Der versteckte Keller unter Jordirs ehemaliger Alchemiestube
    Ort C: Der Sonnenkreis
    Ort D: Höhle in der Nähe des Sonnenkreises
    Ort E: Der Schrein der Tränen

    Waffe 1: Orkischer Schamanenstab
    Waffe 2: Magische Rune „Großer Feuersturm“

    Gegenstand 1: Goldene Maske

    Problem 1: Wiedergekehrte brennende (Phantom-)Schmerzen in Marcus' rechtem Armstumpf
    Problem 2: Pater Lahache versucht, die Macht der Ersten Flamme zu erlangen

    Hindernis 1: Die Kluft zwischen den schwebenden Steininseln

    Pfad 1: Warten auf die Öffnung des Tores zur Flammenfeste
    Pfad 2: Kletteraktion hoch zum Turmfenster an der Flammenfeste


    Eine PDF dieser Geschichte gibt es hier.
    Geändert von John Irenicus (13.01.2024 um 11:42 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Marcus biss die Zähne zusammen. Jetzt, wo ihn die Arbeit nicht mehr ablenkte, brach das Brennen in seinem rechten Arm erst so richtig durch. Die Schmerzen waren heute Morgen einfach da gewesen, aus heiterem Himmel nach einer grundlos unruhigen Sommernacht. Marcus war diese spezifische Art von Schmerzen nicht unbekannt, aber es war lange, lange her, dass er sie so gespürt hatte. Die Erinnerung daran einen ganz eigenen Schmerz wert. Das Schmerzhafteste jetzt gerade in diesem Moment war aber, dass er seinen rechten Arm damals verloren hatte. Aus seiner rechten Körperhälfte direkt unterhalb der Schulter ragte seit Jahren nur noch ein kurzer, abgebundener Stumpf. Und trotzdem konnte Marcus das Brennen bis in seine Fingerspitzen fühlen. Seine rechten Fingerspitzen, wohlgemerkt.
    Als Marcus die großen Tore zum Lagerhaus von außen verschloss, brandete das Brennen noch einmal so richtig auf, wie als ein Signalgeber, dass er doch lieber weiterarbeiten sollte. Dabei gab es am heutigen Tage für ihn nicht mehr viel zu tun. Die Wirtschaft auf Khorinis brummte längst nicht mehr so, dass es ihn bis in die späten Abendstunden hinein bei Kerzenschein über den Inventarlisten hielt. Die Zeit der großen Handelsflotten war vorbei. Die Lagerarbeiter hatten ihren Arbeitsplatz für heute schon verlassen. Zur Bewachung des Lagerhauses genügte ein einziger Pförtner, weil dort kaum jemand größere Werte vermutete. Marcus hatte natürlich nie etwas getan, um diesen Eindruck zu zerstreuen.
    Vor einigen Jahren hatte Marcus selbst noch als einfacher Kistenschlepper im Lager gearbeitet, auf der Fläche, wie man sagte. Der alte Lagermeister, der zufälligerweise auch Marcus geheißen hatte, hatte damals kaum ein gutes Haar an seinen Arbeitsleistungen gelassen. Aber als der Verlust seines rechten Armes das Arbeiten auf der Fläche unmöglich gemacht und der junge Marcus dem alten Marcus fortan als Juniorverwalter assistiert hatte, hatte sich sein unerwartetes Talent für Schrift und Zahlen gezeigt. Ab da waren sich der alte Marcus und die Hafenverwaltung als Eigentümerin des Lagerhauses einig gewesen, dass der junge Marcus dem alten Marcus dereinst in die Stellung des Lagermeisters nachfolgen sollte. Nur ein halbes Jahr nach dieser Ankündigung waren die fortschreitenden körperlichen Gebrechen des alten Marcus so weit gediehen, dass er seine Aufgaben im Lager, die im Wesentlichen im Herumstehen und Herumkeifen bestanden, nicht mehr hatte ausführen können. Jedenfalls nicht hauptberuflich. Denn kaum hatte er sich in den Unruhestand verabschiedet und dem jungen Marcus die Stelle als Lagermeister überlassen, hatte er trotzdem jeden Tag auf der Matte gestanden und gut gemeinte Ratschläge zur Lagerführung verteilt, die so vorsintflutlich daherkamen, als hätte er sie von Rhobar I. höchstpersönlich gelernt. Bis zu seinem Tod war das so gegangen, und mindestens die ersten zwei Wochen nach der Beerdigung des alten Marcus hatte der junge Marcus abends im Lager Ausschau gehalten, ob nicht der Geist des alten Lagermeisters zwischen den Regalen umherstreifte, bedacht darauf, dass alle Kisten in Reih und Glied standen. Aber so nervtötend das alles in der Rückschau auch klang: Der alte Marcus hatte seine Verdienste gehabt. Wäre er nicht gewesen, als sich eine Bande wildgewordener Innosfanatiker die Hafenstadt unter den Nagel hatte reißen wollen, dann hätte Marcus damals wohl mehr als nur seinen rechten Arm verloren.
    Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass die Lagertüren abgeschlossen waren, winkte Marcus dem Pförtner in seinem kleinen Kabuff nebendran zum Abschied und stapfte mit pochenden Schmerzen im Arm davon. Zu diesen Stunden im Hafenviertel war es recht ruhig, nur vereinzelt begegnete Marcus Bürgern und Arbeitern, die ihrerseits auf dem Heimweg sein mochten. Aus einer kleinen Kneipe am Rande des Hauptwegs hinauf in die Unterstadt grollte gedämpftes Gemurmel. Hier war einmal mehr los gewesen, aber der Goldsäckel saß bei den Leuten längst nicht mehr so locker wie noch vor einigen Jahren.
    Direkt am Aufgang zur Unterstadt lag eine Schmiede, an der gerade auch das Tagewerk beendet wurde. Marcus hielt inne. Sein nicht mehr vorhandener Arm fühlte sich mittlerweile so heiß an, als hätte er ihn gerade aus der Esse direkt vor ihm gezogen. Wenn er seine Augen schloss, sah er weiße Blitze in der Dunkelheit umherzucken. Auch das erinnerte ihn an früher und beunruhigte ihn nun umso mehr. Es war Zeit, dass er einen alten Freund aufsuchte. Einen der wenigen, vielleicht den einzigen auf der Insel, der um seine spezielle Geschichte wusste und der ihm sicherlich irgendwie helfen konnte.
    Über die unregelmäßig gesetzten, von gelegentlichen Baumwurzeln und Moosflechten zusätzlich durcheinandergewirbelten Pflastersteine hinweg spazierte Marcus an der Schmiede vorbei und gelangte in eine kleine Unterführung aus dunklem, glatten Stein. Eine Eisentür auf der linken Seite führte zur ehemaligen Alchemiestube seines Freundes und einstigen Arbeitskollegen. Kurz nach Marcus' Aufstieg zum Juniorverwalter hatte Jordir seinen Arbeitsplatz im Lagerhaus verlassen und sich als Alchemist selbstständig gemacht. Ihre Beziehung war früher durchaus wechselhaft gewesen, wobei Marcus sich im Nachhinein größtenteils selbst dafür verantwortlich machte, denn er hatte Jordir immer irgendwie als unterschwellig arrogant wahrgenommen, ohne, dass es dafür wirklich einen Grund gegeben hätte. Auch Jordir war in das damalige Geschehen um die Jünger Innos’ verwickelt gewesen, hatte quasi Seite an Seite mit Marcus und den anderen gegen die Machtübernahme durch die Innosfanatiker gekämpft. Darüber hatte sich ein Band zwischen den beiden entwickelt, das bis heute hielt. Marcus hatte nicht viele Freunde im eigentlichen Sinne auf Khorinis, aber Jordir war sicherlich einer davon.
    Heutzutage war die alte Alchemiestube in der Unterführung geschlossen. Jordir hatte sie aufgegeben, als sein Geschäft so gut lief, dass er sich neue Geschäftsräume direkt am Marktplatz leisten konnte. Dort, wo einst Zuris, der alte Tränkehändler, seine Behausung gefunden hatte, hatte sich Jordir nun ein recht großzügiges Labor eingerichtet, in dem er arbeitete und wohnte. Marcus zweifelte nur wenig daran, dass sein ehemaliger Arbeitskollege ein talentierter Alchemist war. So sehr er mit seiner großen, bulligen Statur für die Arbeit im Lager geschaffen schien, so sehr hatte seine Leidenschaft doch stets für alles Magische gebrannt. In fernerer Vergangenheit, noch vor seiner Zeit im Lagerhaus, war er Novize im Kloster der Feuermagier gewesen. Wie und warum er von dort gegangen war – oder gegangen worden war – hatte er nie genau erzählt, aber ganz offensichtlich hatte er einiges an Wissen mitgenommen.
    Am Ende der Unterführung trat Marcus auf einen Vorplatz, der den Blick zum altehrwürdigen Adanosschrein der Stadt sowie zur nicht minder altehrwürdigen Taverne zur fröhlichen Mastsau freigab. Der anderthalbstöckige Fachwerkbau stand schief wie ein alter Großvater, der sich zu seinen Enkeln herunterbeugte beim Versuch zu hören, was sie ihm da gerade eigentlich erzählten.
    Hüben wie drüben war nicht viel los. Marcus ließ die Taverne zu seiner Rechten liegen und bog in Richtung altem Galgenplatz ab. Marcus folgte dem Weg an der Kaserne vorbei, einem großen, eckigen Steinklotz, der über dem Galgenplatz einerseits und schräg gegenüber vom Marktplatz andererseits thronte. Der Bau war einschüchternd; Marcus war auf die Stadtwache generell nicht allzu gut zu sprechen. Andererseits war auch der alte Marcus Teil der Stadtwache gewesen, und er und andere Männer aus der alten Garde hatten damals dafür gesorgt, dass die Innosfanatiker vertrieben werden konnten. Wären sie nicht gewesen, hätte wohl noch heute jeder Bürger eine Urkunde bei der Stadt vorlegen müssen, die bescheinigte, dass er auch wirklich aus Khorinis stammte. Was wie ein bürokratischer Witz klang, hatten die selbsternannten Jünger Innos’ damals ernst gemeint, todernst sogar. Marcus erschauderte noch immer bei dem Gedanken, dass es eine kleine Gruppe ideologisch verblendeter Priester mit nicht viel mehr als ein wenig Gelaber geschafft hatte, die städtische Führung mit diesem Nonsens zu infizieren. Nach ihrer Vertreibung waren einige führende Köpfe in der Verwaltung ausgetauscht worden, und Marcus konnte nur hoffen, dass das Leute der Marke „Haben wir schon immer so gemacht“ waren, denen man abstruse Ideen von einer zu schaffenden „Reinheit der Bevölkerung“ – und das in einer Hafenstadt! – nicht so leicht verkaufen konnte.
    Marcus erreichte nun den Marktplatz. Für eine Hafenstadt, die einst eine der größten Handelsstädte des myrtanischen Reiches gewesen war, war der Platz ziemlich gedrungen. Die Anzahl der Marktstände konnte man an zwei Händen abzählen. Jetzt zum Abend hin hatten sie fast alle schon zusammengepackt; lediglich Sarah, die Waffenhändlerin, und Baltram, der Lebensmittelhändler, warteten mit stoischer Geduld auf den ein oder anderen Kurzentschlossenen, der sich zum Einbruch der Dämmerung schnell noch eine Axt und ein Stück Wurst kaufen wollte. Bis auf zwei Bürger, eine Bettlerin und zwei Stadtwachen war aber niemand mehr hier. Das Grillenzirpen des warmen Abends hatte das Gefeilsche vom Tage abgelöst.
    Kurz, bevor ihn seine Schritte zum Stadttor führten, machte Marcus auf dem Marktpflaster eine scharfe Biegung nach rechts. Jetzt stand er direkt vor Jordirs Labor. Aus dem Inneren dampfte und blubberte es wie in einer Hexenküche. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Marcus zog sie auf und sah Jordir, wie er vor einem seiner zwei Alchemietische stand und mit flinken Bewegungen rührte, stampfte, kostete, zwei Feuerstellen zugleich regulierte und nebenbei hektisch in Rezeptbüchern blätterte. Er trug ein schlichtes, dunkelbraunes Hemd, das sich, ein paar Nummern zu klein, fest über seinen breiten Rücken spannte. Erst, als Marcus vornehm an den Türrahmen klopfte, bemerkte Jordir seinen Besuch und wandte sich um.
    „Ach, Lagermeister Junior! Was ist los? Halben Tag Urlaub genommen oder ist dir das Lager unterm Hintern weggebrannt?“
    Marcus musste trotz der Schmerzen in seinem nicht vorhandenen Arm grinsen. „Ich habe meine Arbeit einfach nur zügig erledigt. Wenn man das macht, hat man früher Feierabend. Solltest du auch mal ausprobieren.“
    Jordir wandte sich kurz wieder um, nahm einen blubbernden Kessel von der kleineren der zwei Feuerstellen und platzierte ihn in einem Wasserbad, wo er verärgert aufzischte. Parallel fischte Jordir mit der anderen Hand nach einem vorbereiteten Bund Kräutern, die er dem Sud in einem anderen Kessel hinzufügte, und rührte dort ein paarmal um. Erst danach wandte er sich wieder Marcus zu.
    „Um was zu machen?“, griff er den Gesprächsfaden wieder auf. „Anderen Leuten beim Arbeiten zuzuschauen, so wie du?“
    „Das mache ich doch den lieben langen Tag schon von Beruf, das weißt du doch“, gab Marcus trocken zurück.
    Jordir lachte auf, seine hellen Bartstoppeln tanzten dabei auf seinem Gesicht auf und ab. Dann hielt er kurz inne und musterte seinen Gesprächspartner eindringlich. „Du siehst etwas blass um die Nase aus. Dabei habe ich den Trollkirschensud noch gar nicht aufgesetzt. Was ist los?“
    Marcus atmete einmal laut und effektvoll aus, aber das Geräusch ging im allgemeinen Laborgeblubber unter. Erst jetzt spürte er, wie warm es in der Stube eigentlich war. „Ich brauche deine Hilfe“, sagte er dann.
    „Aber doch hoffentlich nicht im Lager, dahin bringen mich keine zehn Schattenläufer zurück“, witzelte Jordir, während er seinen Gesprächspartner teilabwesend durch einen grünen Glaskolben hindurch ansah. Als er den Kolben vor seinem Gesicht wieder wegzog und Marcus in die Augen sah, wurde er jedoch ernst.
    „Ist etwas passiert?“
    „Ich brauche Hilfe bei meinem Arm. Also, bei meinem rechten Arm. Er tut wieder weh.“ Das war noch zurückhaltend beschrieben. Ein Teil von Marcus schien nur noch aus brennendem Schmerz zu bestehen.
    „Nach so vielen Jahren? Wann ist das passiert?“
    „Über Nacht. Gestern war den Tag über noch alles gut. Heute Morgen war es dann schon mit voller Wucht da. Auf der Arbeit schien es noch nicht so schlimm zu sein wie jetzt, zum Abend hin ist es aber immer schlimmer geworden. Ich werde einen Beliar tun, dir hier etwas vorzuheulen, aber das ist nicht nur ein kleines Zipperlein. Sonst wäre ich nicht hier.“
    „Glaube ich dir aufs Wort“, sagte Jordir. „Wir kennen uns lange genug.“ Er stellte den grünen Glaskolben zurück auf den Alchemietisch, warf je einen prüfenden Blick in die beiden Kessel und verschränkte dann die Arme, wie er es beim Überlegen gerne tat.
    „Du erinnerst dich bestimmt noch daran, wie ich dir damals nach der ganzen Scheiße diese Feuerkrautpaste auf den Armstumpf geschmiert habe.“
    „Ja, sehr lebhaft. Hat gebrannt wie Hulle, aber danach war’s weg.“
    „Genau so probieren wir es jetzt auch mal. Ich bin guter Dinge, dass dein Armstumpf schon nach einer Nacht wieder in Ordnung ist.“
    Marcus verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere, lehnte sich dann an den Türrahmen.
    „Ich glaube, wir missverstehen uns. Es geht nicht nur um den Stumpf. Es geht um den ganzen Arm.“
    „Den ganzen Arm?“, fragte Jordir entgeistert. „Du meinst … Phantomschmerzen?“
    „Das ist ein schöner Begriff dafür. Mein ganzer rechter Arm brennt, als wäre er noch da. Und es wäre nett, wenn das aufhören würde.“ Marcus schluckte angestrengt, sein Hals war furchtbar trocken. „Am besten möglichst bald.“
    Jordirs sonst so glatte, quadratische Stirn war von Grübelfalten gezeichnet. Jetzt war er es, der wie Marcus vorhin einmal tief ein und ausatmete. Man konnte es gut hören, weil das Geblubber aus den Kesseln langsam versiegte.
    Nach einigem Schweigen fragte Jordir: „Was siehst du, wenn du deine Augen schließt?“
    Marcus kräuselte die Lippen. „Ich sehe kleine, weiße Lichtblitze“, sagte er. „Es ist kein wirkliches Leuchten, eher ein Glimmen, aber im Grunde ist es wie, als …“
    „ … als sei die Magie wieder in deinen Arm gefahren.“
    Marcus nickte. „Genau deshalb komme ich mit der Sache zu dir. Du warst damals dabei.“
    Jordir löste seine baumstammartigen Arme aus der Verschränkung und legte eine Handfläche an seine Wange. Er wirkte jetzt ein wenig angespannt, nervös, aber Marcus wusste einzuschätzen, dass das bei Jordir immer dann der Fall war, wenn er vor einer Herausforderung stand.
    „Und du bist die letzten Tage nicht mit irgendetwas in Kontakt gekommen, im Lager oder so? Hast du schon versucht, mit deinem Arm Magie aus irgendetwas herauszuziehen, wie damals mit deiner Hand, als sie noch da war? Oder gerade nicht mehr da, besser gesagt. Aber als dein restlicher Arm noch da war. Du weißt, was ich meine?“
    Marcus wurde fast ein wenig schwindelig darüber, wie schonungslos Jordir diejenigen gemeinsamen Erinnerungen zum Köcheln brachte, auf die Marcus eigentlich den Deckel hatte draufhalten wollen. Damals hatten sie gemeinsam den führenden Köpfen der Jünger Innos’ nachgespürt, waren teils in ihre Behausungen eingebrochen, sogar in die Behausung des Richters. Und Rina … – Marcus’ Gedankenstrom brach kurz ab, so schmerzhaft war die Erinnerung. Rina war damals einer ihrer magischen Fallen zum Opfer gefallen, einer verbotenen Kombination aus Mechanik und Feuermagie. Rina war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt worden, hatte aber glücklicherweise überlebt. Marcus’ Hand war damals mit einer ähnlichen Magie von einem der Jünger Innos’ verbrannt worden, restlos verbrannt in einer überaus schmerzhaften Prozedur. Die Hand hatte er verloren, aber der intensive Kontakt mit den Feuerzaubern dieser Magier hatte einen Rest magischer Energie in seinem Handstumpf hinterlassen, der ihn dazu befähigt hatte, einen rational nicht erklärbaren Kontakt mit allen Zaubern der Innosfanatiker aufzunehmen. So hatte er damals tatsächlich ein paar der magischen Feuerfallen der Magier entschärfen können, indem er die Magie aus den Fallen, die sich ihm bei geschlossenem Auge als Schein weißen Lichts dargestellt hatten, gewissermaßen aus der Ferne herausgesogen hatte. Erst später hatte er bei einem weiteren Gefecht mit den Fanatikern auch noch seinen restlichen Arm verloren. Es war eine befremdliche und beunruhigende Erfahrung gewesen, die er lange Jahre tief in seinem Gedächtnis begraben gehalten hatte.
    „Marcus?“
    Der Angesprochene schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Ja? Ich meine, nein, ich hatte keinen Kontakt zu Magie und will auch keinen haben. Schon gar nicht will ich meinen Arm irgendwie benutzen. Ich war eigentlich nur froh, dass die Sache damals ein Ende hatte, als die Pfaffen weg waren. Mein rechter Arm soll einfach wieder das sein, was er in Wirklichkeit ist: Nicht da. Mit was anderem kann ich mich nur schlecht abfinden.“
    Die Feuer unter den Kesseln waren mittlerweile erloschen, die Dämpfe aus der Stube hatten sich verzogen und es hatte sich deutlich abgekühlt. Davon bemerkte Marcus zwar nicht so viel angesichts der Hitze im Phantom seines rechten Arms, aber die Atmosphäre hatte sich nun merklich verändert. Kalter Schweiß stand auf Marcus’ Stirn, und Jordir war sehr ernst geworden.
    „Dein Wunsch ist mir Befehl“, sagte Jordir. „Ich würde es jetzt trotzdem erst einmal mit einer Feuerkrautpaste versuchen. Allein schon, weil ich noch genug Feuerkraut da habe. Die lassen wir dann mal eine gute Stunde bei dir einwirken, und dann sehen wir weiter.“
    „Ich weiß nicht, ob ich das noch eine Stunde aushalte, ganz ehrlich“, sagte Marcus. Der Schmerz hatte ihn schon ganz mürbe gemacht. Am schlimmsten war, dass dort ja nichts war, was er massieren, kühlen oder sich wenigstens einfach nur ansehen konnte. Ein Schmerz im Nichts war schlimmer als jede noch so monströs klaffende Wunde.
    „Setz dich erst einmal dort auf den Hocker, und wenn es gar nicht mehr geht, biete ich dir auch mein Bett an, da bin ich heute mal großzügiger Gastgeber. Ich gebe dir erst einmal einen Trank gegen die Schmerzen. Den nimmst du in kleinen Schlücken, während ich die Paste vorbereite. Halte durch, der Körper ist gar nicht in der Lage, dauerhaft nur Schmerzen zu machen. Irgendwann wird das schon ganz von selbst wieder weniger.“
    „Dein Wort in Innos’ Ohr“, sagte Marcus, während er einen vierbeinigen Hocker mit runder Sitzfläche zu sich heranzog und sich darauf niederließ.
    „Den Innos würde ich heute mal lieber aus dem Spiel lassen, der hat dir das Ganze im Prinzip ja erst eingebrockt.“
    „Auch wieder wahr.“

    „Und?“ Jordir steckte seinen Kopf hinter den Vorhang des abgetrennten Schlafbereichs in seinem Labor, wo Marcus sich zum Ruhen niedergelassen hatte. Geschlafen hatte er nicht, gleichwohl fühlte er sich benommen, als er sich aufsetzte. „Sei ehrlich“, hakte Jordir nach.
    Marcus schüttelte missmutig den Kopf. „Der Trank hat ein kleines bisschen geholfen, aber die Paste hat original gar nichts genutzt“, resümierte er. „Na ja, vielleicht ein ganz kleines bisschen. Das war’s aber auch schon.“ Wie zur Bestätigung spürte Marcus noch einmal ganz gezielt seinem fehlenden rechten Arm nach. Das Brennen war noch da, lediglich das Pochen war ein wenig gedämpft worden. „Und jetzt?“
    Jordir nickte wissend. „Jetzt gleich bekommst du erst einmal einen weiteren Schmerztrank für die Nacht, den habe ich gerade noch zusammengebraut, er kühlt gerade noch ab. Spezialmischung. Großen Schluck vor dem Schlafengehen, macht auch ein bisschen schläfrig.“
    „Und das soll ich ab jetzt jede Nacht machen, oder wie?“, fragte Marcus. „Da kann ich mich ja gleich mit Wacholder abschießen.“
    Jordir schüttelte den Kopf. „Ich habe einen anderen Plan. Ich habe in der Zwischenzeit einmal meine gesammelten Werke durchgeblättert und bin auf ein Rezept für einen Magieabwehrtrank gestoßen. Ich denke, mit ein paar kleinen Modifizierungen kann man daraus ein Serum herstellen, das dein Schmerzproblem dauerhaft löst. Eventuell muss ich dir die Lösung in den Armstumpf spritzen.“
    „Worauf warten wir dann noch? Immer rein damit!“, sagte Marcus, der sich mittlerweile auf die Bettkante gesetzt hatte und nun schon mit seiner linken Hand den Knoten im rechten Hemdsärmel lösen wollte, der seinen Armstumpf verbarg.
    „Wie es im Leben eines Alchemisten immer so ist, fehlt die entscheidende Zutat. Gewöhnliches Feuerkraut reicht hier nicht aus. Wir brauchen eine violette Feuerwurzel, besser sogar zwei.“
    „Und ich nehme mal an, diese Zutat ist so unfassbar selten, dass man sie nur auf einer fernen Insel, weit östlich noch vom östlichen Archipel finden kann, wo sie auf den Exkrementen einer fast ausgestorbenen Drachenart wächst?“
    „Ich hätte es jetzt erstmal am Sonnenkreis versucht“, sagte Jordir.
    „Hm.“
    Marcus stand vom Bett auf und nahm die bauchige, rote Flasche mit dem schuppigen Muster entgegen, die Jordir ihm nun reichte.
    „Bist du denn reisefähig?“, fragte Jordir.
    „Na ja, bis nach Hause werde ich es ja wohl noch schaffen.“
    „Das meine ich nicht, hier kommt nämlich der kleine Haken an der Sache. Du müsstest mit mir zum Sonnenkreis kommen.“
    Marcus zog die Augenbrauen hoch. „Du willst dir doch nicht allen Ernstes von einem Einarmigen beim Blümchenpflücken helfen lassen.“
    Jordir schüttelte den Kopf. „Das bekomme ich noch alleine hin. Das Problem ist, dass das Serum nach Fertigstellung höchst instabil ist. Und sobald man eine violette Feuerwurzel erntet, fängt sie sofort an zu verwelken. Mein Plan ist, dass ich das Serum so weit vorbereite, wie es mir möglich ist, und die Essenz der violetten Feuerwurzel dann vor Ort extrahiere, um sie als letzte Zutat hinzuzufügen. Und dann bekommst du den Stoff sofort gespritzt.“
    „Das klingt nach einem echten Jordir“, seufzte Marcus. „Wird schon schiefgehen. Sag mir einfach, wann ich wo zu sein habe.“
    „Morgen früh kurz nach Sonnenaufgang am östlichen Stadttor“, beschloss Jordir.
    „Und wer geht dann für mich ins Lager?“
    „Das Lager muss sich dann mal einen Tag lang selbst verwalten. Frag doch deinen Pförtner, keine Ahnung. Ich bin dein Hausdoktor, nicht dein Berufsberater. Also?“
    „Also gut“, seufzte Marcus. „Morgen früh am Osttor dann.“

    Jordir hatte noch einige Zeit in seinem Labor verbracht, um die Tinktur für den kommenden Tag vorzubereiten, in ein kleines Fläschchen aus Kristallglas zu füllen, dieses sorgsam zu verschließen und in seinen Rucksack zu packen. Nachdem er sein Werk vollbracht hatte, hatte er die Tür zu seinem Labor und Wohnhaus ebenso sorgsam abgeschlossen, um sich sodann im Dunkel der Nacht auf die Straße zu begeben. Im Schein der versprengten Straßenlaternen ging Jordir, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, einen Teil des Weges, über den Marcus zu ihm gekommen war. Als er über den Vorplatz zur Taverne und zum Adanosschrein hinweg an der Unterführung angelangt war, durchlief er sie nicht vollständig, sondern blieb in etwa auf der Hälfte stehen, um die Tür zu seinem alten, ehemaligen Labor aufzuschließen. Nur Wenige wussten, dass er noch einen Schlüssel zu diesen Räumlichkeiten besaß. Im Schloss der stabilen Eisentür klickte es, als er den Schlüssel drehte. Als er eintrat und die Tür hinter sich schloss, stand er zunächst im Dunkeln, aber als er seine mitgebrachte Öllampe mit einem Streichholz entzündete, wurden die kahlen Wände der engen Stube mit tanzendem Flammenschein beschienen. Ein paar Insekten, wie Silberfischchen, Kellerasseln und sonstiges Ungeziefer sowie eine auf beachtliche Größe herangewachsene, braune Spinne verzogen sich in ein paar Winkel des Raumes, die durch zurückgelassene Schränke, abgesplitterte Fußleisten und zwei vermoderte, übereinander liegende Regalbretter gebildet wurden. In der linken hinteren Ecke des Raumes war ein dicker Teppich ausgelegt, dessen einst knallrote Farbe zum Teil verblasst, zum Teil von einer dicken Staubschicht gedämpft war. Ganze Flocken wirbelten auf, als Jordir ihn mit einem kräftigen Ruck zur Seite zog. Zum Vorschein kam eine metallene Falltür, um deren Existenz, da war Jordir sich sicher, allein er selbst wusste – abgesehen vielleicht vom lange verstorbenen Vorbesitzer des Labors. Jedenfalls besaß er den einzigen Schlüssel, um das Vorhängeschloss zu entfernen. Als das erledigt war, griff er an der verlassenen Feuerstelle der Stube nach einem Schürhaken, um die im Steinboden eingelassene Luke aufzuziehen. Es quietschte und kreischte dabei so laut, dass Jordir Angst haben musste, den Schmied nebenan zu wecken. Dann war die Luke auf, und Jordir stieg, seinen Rucksack auf dem Rücken und in einer Hand die Öllampe, über eine Leiter aus schmalen Eisenstreben hinab in den Keller unter dem Labor. Nach genau vierzehn Schritten war er unten angekommen.
    Es war zwar mehr als ein bloßer Kriechkeller, aber mit seiner Statur hatte Jordir Mühe, sich hier zu bewegen, ohne etwas umzuwerfen, zumal der Keller vollgestellt war mit jeder Menge Sachen, von denen manche als echtes Artefakt durchgehen konnte. In der Breite maß der schmale, rechteckige Raum kaum anderthalb Schritte, in der Länge immerhin knapp fünf. Kommoden, Schränke und Regale zu den Seiten schränkten den Bewegungsspielraum noch mehr ein; auf dem Boden lagen zusätzlich Säcke voller Sand, Kohle und Zunder. Ein gewisser Muff hing in der Luft, Spinnweben zierten die Ecken des Raumes, dessen Decke im Übrigen etwas zu niedrig für Jordir war, sodass er hier stets leicht gebeugt stehen musste.
    Jordir wollte die Vorzüge eines solchen geheimen Lagerraumes nicht missen, zumal sich hier das ein oder andere Stück verbarg, das er vor neugierigen Besucherblicken nur zu gerne abschirmte. Neben solchen besonderen Stücken bewahrte Jordir hier aber auch weitere Vorräte auf, kühl und lichtgeschützt, die er in seinem aktuellen Labor nicht sinnvoll hatte unterbringen können. Von diesen füllte er nun einige in seinen mitgebrachten Rucksack, außerdem einen kleinen Ölbrenner für unterwegs, Zunder und Streichhölzer. Mörser und Stößel hatte er schon in seinem aktuellen Labor eingepackt, ebenso wie seine goldene Sichel zum schonenden Ernten von Kräutern und andere kleine Gerätschaften.
    Als er das Notwendige gepackt hatte, ließ Jordir den Blick durch den Raum schweifen, der durch die Öllampe, die er mittlerweile auf einem kleinen Unterschrank abgestellt hatte, gut erhellt wurde. An der Wand nahe der Treppe war ein Stab angelehnt, groß und lang, mit einem kleinen Erzbrocken an der Spitze, zwei abstehenden roten Federn und einer gelben Bemalung in Form von drei Streifen in etwa auf halber Länge. Jordir, der in seiner kurzen Zeit im Kloster der Feuermagier im Umgang mit Kampfstäben geschult worden war, hätte sich sicherlich zugetraut, diesen Stab als eine solche Waffe zu verwenden, aber das wäre dem Zweck dieses Artefakts nicht gerecht geworden: Es war ein orkischer Schamanenstab, den er vor gut einem halben Jahr über einen dubiosen Zwischenhändler erworben hatte. In den richtigen Händen vermochte er mächtige Feuerzauber zu wirken – wobei die richtigen Hände in aller Regel Orkhände waren.
    Direkt neben Jordir, nicht weit von der Öllampe, lag ein dunkler Runenstein auf einem kleinen Beistelltisch. Die orangene Gravur schien eher ein fremdartiges Tentakelwesen als eine Flamme darzustellen, aber der abtrünnige Magier, von dem er die Rune gekauft hatte, hatte ihm glaubhaft versichert und schließlich sogar vorgeführt, dass es sich hierbei um eine Rune zum Wirken eines Großen Feuersturms handelte. Jordirs eigene Ausbildung, obwohl damals im Kloster eigenmächtig und zu großen Teilen ohne Aufsicht seiner Ausbilder vorangetrieben, was schließlich auch zu seinem Rauswurf geführt hatte, war nicht weit genug gediehen, als dass er die Rune gefahrlos hätte benutzen können.
    Zuletzt fiel Jordirs Blick auf einen Gegenstand, den er ganz am Ende des schmalen Raumes an der dunklen Steinwand drapiert hatte. Es war eine goldene Maske, deren Prägung ein stummes, ausdrucksloses Gesicht zur Schau trug. Es war ein Frauengesicht, doch ein Teil der Mund- und Kinnpartie fehlte. Jordirs Verständnis nach war dieser Teil aber nicht etwa herausgebrochen oder vergessen worden. Vielmehr war die Maske absichtlich so gefertigt worden, um zu dem Gesicht derjenigen Frau zu passen, die sie getragen hatte, oder besser, hatte tragen müssen: Katharina. Sie war damals, ähnlich wie Marcus, von der mächtigen Magie der Jünger Innos’ versengt worden, sodass fast ihr gesamtes Gesicht entstellt worden war. Zwischenzeitlich hatten sie Katharina sogar für tot gehalten, doch sie war nicht im Flammenmeer umgekommen, sondern von den Innosfanatikern gefangen genommen und kontrolliert worden, bis es Marcus gelungen war, den Bann zu brechen und die Fanatiker gemeinsam mit den anderen in die Flucht zu schlagen. Jordirs Nackenhaare stellten sich auf, als er an die Macht dachte, die die Magier ausgestrahlt hatten. Es war eine ganz eigene Art der Feuermagie gewesen, mehr eine entfernte Verwandte derjenigen Zauber, die für gewöhnlich im Kloster gelehrt wurden. Jordir war damals im allgemeinen Trubel nicht umhingekommen, sich die übriggebliebene Maske einzustecken, für die sich sonst keiner mehr interessiert hatte und die Katharina vermutlich als letztes für sich hätte behalten wollen. Dennoch hatte Jordir das starke Gefühl, dass es besser war, wenn niemand außer ihm wusste, insbesondere nicht Marcus, dass er die Maske mitgenommen und aufbewahrt hatte. Mit dem geringen magischen Wissen, das Jordir besaß, hatte er ein paar Tests mit der Maske durchgeführt, in der er zumindest einen Teil der mächtigen Magie der Jünger Innos’ vermutet hatte. Die Experimente waren sämtlich fehlgeschlagen. Und dennoch war Jordir nie ganz von dem Gedanken abgekommen, dass der Maske noch immer eine Kraft innewohnte, die nur darauf wartete, entfesselt zu werden. Eine Kraft, für die er damals eigentlich ins Kloster gegangen war – bevor man ihn zum Stubenfegen und Schafeschlachten verdonnert hatte.
    Jetzt, mitten in der Nacht in diesem Keller, keimte in Jordir ein neuer Gedanke. Der Sonnenkreis war ein magischer Ort, an dem die Luft elektrisch aufgeladen schien und die Wände zwischen den Sphären besonders dünn waren – so erzählte man es sich zumindest. Wenn also etwas verborgene Kräfte wecken konnte, dann doch vielleicht … ?
    Jordir überlegte nicht weiter, sondern ging wie fremdgesteuert zur Maske, hob sie von der Wand und ließ sie in seinen Rucksack gleiten. Es konnte ja nicht schaden, sie einfach mal mitzunehmen. Und vielleicht hatte er ja in einem unbeobachteten Moment Zeit für einen weiteren kleinen Test.

    ~


    „Da bist du ja endlich“, sagte Marcus, als er Jordir quer über den Marktplatz zum Osttor der Stadt spazieren sah, einen großen, beigen Rucksack lässig über eine Schulter geschwungen. Marcus trug ein schlichtes, hellbraunes Hemd, dessen rechten Ärmel er wie üblich zu einem Knoten zusammengebunden hatte.
    „Was heißt denn hier endlich?“, fragte Jordir und blickte demonstrativ in den Himmel. „Es ist ja fast noch mehr Nacht als Tag, wenn ich mir die paar Sonnenstrahlen so anschaue.“ In der Tat war der Himmel größtenteils wolkenbedeckt, das Sonnenlicht drang nur äußerst gedämpft zu ihnen durch, und es kündigte sich an, ein sehr schwüler Tag zu werden. Einige Meter weiter breitete Hakon, neben Sarah der zweite Waffenhändler auf dem Marktplatz, als einer der ersten gerade sein Sortiment aus.
    „Mich haben die Schmerzen aus dem Bett getrieben“, gab Marcus zu. Das Brennen in seinem Phantomarm war zu einem unangenehmen Dauerbegleiter geworden, wie ein nicht enden wollendes Sommergewitter.
    „So schlimm?“
    „Mit dem Schmerzmittel ging es, aber die Flasche war ja irgendwann leer.“
    „Deswegen hab ich dir noch eine neue mitgebracht“, sagte Jordir, griff in seinen Rucksack und zog zielsicher ein rotes Fläschchen heraus. „Aber trink die jetzt bitte nicht auf einmal leer, das Zeug macht dich auf Dauer nur dulle im Kopf.“
    „Hab’ ich gemerkt“, sagte Marcus und nahm die Flasche entgegen. Er selbst führte einen kleinen Umhängebeutel mit sich, in dem er das Fläschchen nun verstaute. An seinem Gürtel trug er, auf der linken Seite, einen leichten Degen. Wenn er schon mit Jordir zum Sonnenkreis spazierte, dann wollte er wenigstens auf ein paar Eventualitäten vorbereitet sein. Jordir selbst schien auf eine offensichtliche Bewaffnung verzichtet zu haben.
    „Sollen wir dann los?“, fragte der breitschultrige Alchemist.
    Marcus nickte. „Besser früher als später.“
    Unter den müden Blicken zweier Stadtwachen verließen sie die Hafenstadt durch das Osttor.
    Geändert von John Irenicus (13.01.2024 um 11:40 Uhr)

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    „Ja, Jordir“, murrte Marcus, als sich sein Begleiter abermals zu ihm umdrehte. „Die Antwort lautet Ja. Ich kann noch. Ich bin einarmig und habe Schmerzen, aber deshalb bin ich noch lange nicht vergreist. Wir sind beinahe gleich alt, vergiss das nicht. Einen kleinen Waldspaziergang werde ich ja wohl noch hinbekommen, mach’ dir da mal keine Sorgen.“
    Jordir blieb stehen und grinste sein spitzbübischstes Grinsen. „Du klingst jetzt gerade fast wie der alte Marcus.“
    „Also, jetzt reicht’s aber!“, sagte Marcus, musste nun aber auch selber ein wenig grinsen.
    „Die Hälfte haben wir jedenfalls geschafft“, sagte Jordir, der sich nun wieder umgewandt hatte und den steilen Waldpfad hinauf stapfte, mit Marcus im Schlepptau. Es war ziemlich dunkel, die wenigen Lichtstrahlen, die es durch die Wolkendecke am Himmel schafften, prallten hier auf ein Dach dichter Baumkronen, deren Blätter dem einfallenden Licht einen tiefen Grünstich verliehen. Die Luft war schwer, stand und war fast schneidbar; auf Marcus’ gesamter Haut hatte sich ein dicker Schweißfilm gebildet, sein Rücken war sogar richtiggehend nass, sein Hemd klebte an ihm und färbte sich zusehends dunkler. Jordir schien das alles zwar etwas besser zu verpacken, aber auch von seiner Nasenspitze tropfte dann und wann ein kleiner, neckischer Schweißtropfen. Das hier war nicht bloß ein Urwald, heute war es ein richtiggehender Dschungel. Ein stiller Dschungel allerdings: Bis auf einen bemerkenswert scheuen Wolf, dem gelegentlichen fernen Brummen einiger Blutfliegen und der folgenlosen Begegnung mit zwei Molerats schien die Fauna im Wald nordöstlich von Khorinis in einen erschöpften Sommerschlaf gefallen zu sein. Die Flora dagegen, in Form von Farnen in allen möglichen Größen, Waldbeeren, Steinwurzeln, Dunkelpilzen, Blaufliedern, Heilpflanzen diverser Arten und sogar einer beachtlichen Ansammlung von Sumpfkraut an einer natürlich gebildeten Wasserstelle, sie spross nur so vor lauter Lebendigkeit.
    „Auf dem Rückweg werde ich auf jeden Fall noch einiges an Kräutern einsammeln“, hatte Jordir schon nach wenigen Metern im Wald angekündigt. Marcus hatte dazu nichts gesagt und nur gehofft, dass es bezüglich dieses Vorhabens wirklich beim Rückweg blieb, denn den konnte er dann ja notfalls auch alleine zurücklegen. Insgeheim war er aber sehr dankbar, dass Jordir ihn durch den Forst lotste. Trotz manchmal unübersichtlicher Verläufe der Trampelpfade und der schlechten Sichtverhältnisse führte er den Weg sehr sicher an; ganz offensichtlich kannte er sich in den heimischen Wäldern aus. Es gab zwei Sorten von Alchemisten, hatte Jordir mal erklärt: Die Schreibtischalchemisten, die ihre Rohstoffe und Ingredienzien fast ausschließlich über den lokalen Handel bezogen und die Fundorte von Kräutern allenfalls aus Erzählungen kannten, und die Feld-Wald-und-Wiesen-Alchemisten, die ihre Zutaten noch selber pflückten. Jordir hatte sich mit Inbrunst zum letzteren Typus gezählt, woraus Marcus eine gewisse Abneigung gegenüber den Schreibtischvertretern herausgehört hatte.
    Der Weg durch den Wald wurde noch ein wenig steiler. Khorinis war eine hügelige und gebirgige Insel, wenn man die Küste einmal verlassen hatte, und das ließ ihre Heimat die beiden Wanderer jetzt gerade besonders spüren. Nach einiger Zeit aber flachte die Steigung zumindest etwas ab und der Weg schlängelte sich neben einem vernebelten Plateau vorbei, auf dem aus großen, graublauen Monolithen vor möglicherweise ewigen Zeiten ein Steinkreis geformt worden war. Es waren drei Gebilde aus je zwei senkrecht aufgestellten Stützsteinen und einem quer darübergelegten weiteren Stein, die in einem Kreis, eigentlich sogar eher einem Dreieck, angeordnet waren. In ihrer Mitte war eine große, massive Steinplatte in den Waldboden eingelassen, die als Altar und Grabplatte zugleich fungiert haben mochte.
    „Das ist jetzt aber noch nicht der Sonnenkreis, oder?“, fragte Marcus, der ein angestrengtes Keuchen nur schwer unterdrücken konnte. Seine Oberschenkel spannten unangenehm in seiner Hose, die er für den heutigen Anlass deutlich zu eng gewählt hatte. Immerhin lenkte ihn das ein wenig von seinen Schmerzen im Arm ab. Als Jordir vor ihm stehen blieb, griff Marcus noch einmal in seinem Umhängebeutel nach der Flasche und nahm einen tiefen Schluck des Schmerzmittels.
    „Nein, der Sonnenkreis ist noch ein bisschen weiter nordöstlich“, sagte Jordir. „Aber aus Sicht des Alchemisten ist jeder Steinkreis etwas wert. Wer diese Steinkreise errichtet hat, weiß niemand, aber man vermutet, dass sie, noch lange vor Entwicklung der uns bekannten Magie, magische Kultstätten waren. Ein Teil dieser Magie ist mit den Jahrhunderten auf diese Steine übergegangen. Nur so ist erklärbar, warum an ihnen so viele seltene Kräuter wachsen. Kronstöckel zum Beispiel. Den brauchen wir übrigens auch für deinen Trank, weil erst das Hinzufügen von Kronstöckel die Wirkung dauerhaft macht. Es wäre also vielleicht gar nicht mal so schlecht, wenn wir, so ganz eventuell …“
    „Ja doch, ich habe schon verstanden“, sagte Marcus. „Für den kleinen Abstecher haben wir auf jeden Fall noch Zeit.“
    „Schön, dass wir mal einer Meinung sind“, sagte Jordir und verließ den Trampelpfad nach rechts, um mit einem großen Schritt die kleine Erhebung zu erklimmen, auf der der Steinkreis angeordnet war. Marcus folgte ihm.
    Ein unerwartet kühler Luftzug wehte durch die Steinkonstruktionen hindurch. Der moosige Grund war überall mit Kräutern verschiedenster Art bewachsen. Wurzeln in wundersamsten Formen reckten sich in alle Richtungen. Obwohl Marcus in einiger Entfernung erkennen konnte, dass sich der Wald bald ein wenig lichtete, war es hier noch erstaunlich dunkel. In der Ferne hörte er einen Scavengerschrei, in der Nähe im Gebüsch raschelte es. Seine Nackenhaare stellten sich auf.
    Jordir hatte eine goldene Sichel aus seinem Rucksack gezogen und war in die Hocke gegangen, um die Pflanzen rund um die Steine zu begutachten und ab und zu eines der Exemplare abzuschneiden oder mitsamt der Wurzeln aus dem Boden zu graben. „Aha, da haben wir doch tatsächlich einen Kronstöckel!“, rief er dann nach einer Weile aus und reckte eine kleine, grüne, mehrblättrige Pflanze in die Höhe, die ganz genau so aussah wie jedes andere Unkraut auch. Jordir hätte sonstwas über die Pflanze erzählen können und Marcus hätte es ihm geglaubt. Nichtsdestotrotz: Marcus verstand schon, dass solche Steinkreise etwas Besonderes waren; jetzt gerade fühlte er es sogar richtig. Gleichzeitig spürte er aber auch eine innere Unruhe, wie eine Vorahnung, dass sie hier lieber nicht zu lange bleiben sollten. Wer wusste schon, wie weit die schreienden Scavenger entfernt waren? Wer konnte ausschließen, dass dort im Gebüsch ein Schattenläufer raschelte? Wer sagte ihnen, dass nicht irgendwo in einer der umliegenden Höhlen eine Rotte schwarzer Goblins auf fette Beute lauerte, ihre Zähne angespitzt hatte, um sie bei nächster Gelegenheit in Menschenfleisch zu schlagen?
    „Bin gleich fertig!“, rief Jordir vergnügt, während er fast wie ein pickendes Huhn etwas abseits von der Grabplatte in der Mitte ein paar weitere Kräuter pflückte und sie in einen mitgebrachten Beutel stopfte.
    Marcus tapste zwischen den Monolithen umher und streifte den Fels mit seiner flachen Hand. Erst dadurch erkannte er, wie erstaunlich glatt sie gehauen waren. Außerdem waren sie feucht, so feucht, als hätte es gerade noch geregnet. Das hatten sie mit dem Waldboden gemein. Die Wärme ließ kaum sichtbare Dämpfe aufsteigen, es roch erdig, nach Moos, süßlich, aber auch nach verrottenden Pflanzen und alten Pilzen.
    Als Marcus fast einmal ganz um den Steinkreis herumgegangen war, entdeckte er etwas, das er zunächst für einen halb umgestürzten oder abgeschnittenen Baumstamm hielt, der im Schatten einer großen Trauerweide seinem Ende entgegensah. In dem Moment, in dem Marcus einen Schritt herantrat und seine Hand ausstreckte, sah er allerdings, dass die reliefartige Struktur des Objekts nicht etwa eine Rinde war, sondern ein Band aus steinernen Ornamenten. Dann gab es ein lautes Knirschen, ein gelblicher Nebel stieg auf, und die Krone des vermeintlichen Baumstamms entpuppte sich als ein steinernes Gesicht, das sich nun mit einer ruckartigen Bewegung Marcus zugewandt hatte. Noch ehe Marcus schreien konnte, traf ihn die braune Felsenfaust der Kreatur an die Schläfe und er wurde zu Boden geworfen.
    „Marcus!“, rief Jordir entsetzt. Marcus konnte nicht sehen, wo sein Freund gerade war, zu beschäftigt war er damit, sich mangels besserer Alternativen panisch über den Boden zu rollen, um irgendwie Abstand zu dem Wesen über ihm zu gewinnen. Blut mischte sich mit dem Waldboden und der Waldboden mit seinem Speichel, als er über den Boden robbte. Er war zu langsam. Mit Schritten, die die Erde förmlich beben ließen, setzte ihm das Wesen mit dem großen Steinkopf nach. Als Marcus sich, mit nur einem Arm etwas wackelig, vom Boden abstieß um sich wieder aufzurichten, sah er der steinernen Kreatur zum ersten Mal voll ins Antlitz. Ihr eigentlicher Kopf war gar nicht so groß, sein Haupt war vielmehr mit einer steinernen Krone bedeckt, die eine Art Sonne darstellte und sich passgenau in den Rest der felsigen Ornamente am Körper dieses Wesens einfügte. Als die Kreatur zu einem weiteren Schlag ausholte, wich Marcus zurück und stürzte dabei rücklings über einen herumliegenden Baumstamm. Sein Schrei ließ einige verdutzte Vögel in den Baumkronen auffahren und davonfliegen. Marcus tastete nach dem Degen an seinem Gürtel, aber er wusste, dass ihm dieser Zahnstocher gegen so ein massiv gebautes Wesen nicht helfen würde. Sein Kopf dröhnte, ein scharfer Tinnitus bahnte sich seinen Weg von der Verletzung an seiner Schläfe durch seinen ganzen Körper. Die Faust des Steinwesens war nun nicht mehr weit von ihm entfernt – und dann wurde die Kreatur von hinten mit einer derartigen Wucht getroffen, dass ein Teil ihrer Steinkrone wegbröckelte. Sie hielt inne, wirkte selbst mit ihrem starren, unveränderlichen Gesichtsausdruck geradezu verdutzt und wandte sich mechanisch um. Dort stand Jordir, einen langen, schweren Ast in zwei Hände gefasst. Behände richtete er ihn erneut zur Steinkreatur aus, bereit, ihr einen weiteren Schlag zu verpassen. Die Kreatur schien unschlüssig, ob sie nun Jordir angreifen oder sich wieder auf Marcus stürzen sollte, bis etwas passierte, womit sie beide nicht gerechnet hatten: Eine Art Druckwelle, fast ein Beben schien durch den gesamten Wald zu fahren, ganz kurz brandete ein heftiger Wind auf, der die Baumkronen empört rascheln ließ – und dann machte der Felsenmann plötzlich kehrt und rannte geradeaus in die Tiefe des Waldes hinein, weg vom Steinkreis, weg von Jordir und Marcus. Irgendwann wurde er von einem Gebüsch verschluckt, und schließlich verhallten auch seine krachenden, stampfenden Schritte im allgemeinen Hintergrundgeraune des Forstes. In der relativen Stille hörte Marcus nun sein eigenes Blut im Körper rauschen und seinen Atem rasseln. Er zitterte, aber er lebte noch. Das war die Hauptsache.
    „Ist dir was passiert?“, fragte Jordir, der nun zu Marcus gerannt kam und sich sofort neben ihn kniete.
    „Ja“, keuchte Marcus und setzte sich auf. „Mich hat gerade aus dem Nichts so ein seltsames Steinwesen umgeboxt. Weiß nicht, ob du das mitbekommen hast.“
    „Nun werd’ nicht albern“, maßregelte Jordir ihn in ernster Sorge. „Hat er dich stark erwischt?“
    „War schon ein ordentlicher Schwinger“, sagte Marcus und wollte aufstehen, wurde aber von Jordir mit sanftem Druck auf die Schultern davon abgehalten. „Direkt an die Schläfe. Blutet es stark?“
    „Ist schon ordentlich, aber nichts, was wir nicht in den Griff bekämen. Solange nicht zu viel Dreck in die Wunde geraten ist. Aber sonst alles okay? Irgendwas gebrochen?“
    „Ich hätte vorhin fast vor Angst auf den Boden gekotzt, falls das zählt“, sagte Marcus. Er richtete sich nun doch auf und kam auf wackeligen Beinen zum Stehen. „Aber sonst scheint alles noch heil zu sein.“
    „Das lässt sich hören“, sagte Jordir. „Aber damit das auch so bleibt, setzt du dich jetzt bitte mal auf den Baumstamm da, bis ich deine Wunde versorgt habe.“
    Marcus leistete dem streng vorgetragenen Vorschlag Folge und war insgeheim auch ein wenig froh darum, denn kurzzeitig hatte es begonnen, schwarz vor seinen Augen zu werden. Das legte sich, als er wieder saß.
    „Was war das bitte für ein Ding?“, fragte Marcus nach einer Weile, nachdem Jordir begonnen hatte, ihm mit einem mitgebrachten Tuch und einer rosafarbenen Tinktur die Wunde an der Schläfe zu säubern.
    „Wenn ich dir das beantworten könnte … es schien mir fast wie eine Art Wächter des Steinkreises zu sein. Vielleicht aus dem Kult, der diese Stätte mal errichtet hat? Ich habe den ja erst überhaupt nicht gesehen.
    „Dann kannst du dir ja vorstellen, wie überrascht ich war, als der sich auf
    einmal bewegt hat. Ich hoffe mal, wir begegnen dem nicht noch einmal. Danke, dass du ihn vertrieben hast.“
    „Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich es war, der ihn vertrieben hat. So ein Schlag mit einem Holzstöckchen wird ja wohl einen magischen Wächter nicht in die Flucht schlagen. Das schien mir eher so, als hätte er plötzlich ein neues Ziel oder sei irgendwo hin gerufen worden. Oder, als hätte er völlig die Orientierung verloren. Da lag irgendwas in der Luft, ich weiß auch nicht. So eine Art Vibrieren.“
    „Das habe ich auch gespürt, aber dann war es auf einmal weg. Ich hoffe mal, das Ding bleibt einfach im Wald und richtet jetzt nicht noch anderswo Unheil an.“
    „Hm“, machte Jordir nur und schloss das Getupfe an Marcus’ Kopf mit einem kleinen, provisorischen Wundverband ab.
    „Was Größeres habe ich jetzt leider nicht dabei. Wenn du willst, können wir auch lieber umkehren.“
    Marcus schüttelte den frisch verbundenen Kopf. „Wir sind doch fast da. Soll doch nicht für umsonst gewesen sein, dass ich beinahe von einer lebendigen Statue massakriert worden bin. Und um ehrlich zu sein, geht es mir jetzt sogar fast noch besser als vorher. Jetzt, wo mir die Birne so dröhnt, spüre ich meinen Arm eigentlich gar nicht mehr.“
    „Was kleine Schläge auf den Kopf so bewirken können“, sagte Jordir leise lachend und griff beiläufig nach dem langen Ast, mit dem er dem Steinwächter eins verpasst hatte. „Aber ich glaube, das hat eher etwas damit zu tun, dass du kurz vorher noch einen ordentlichen Schluck vom Schmerzmittel getrunken hast. Dann der Adrenalinausstoß jetzt, der Körper nochmal so richtig auf Touren, wahrscheinlich ist das Zeug jetzt einmal so richtig durch dich durchgerauscht. Genieß es, das wird wohl gleich aufhören.“
    „Mach’ ich“, sagte Marcus nur, und dann setzten sie ihren Weg fort. Den langen Ast nahm Jordir mit und legte ihn sich lässig über die Schulter.

    Bis zum Sonnenkreis war es tatsächlich nicht mehr weit. Einige Schritte weiter, unter anderem über eine von Menschenhand in den Bergfels gehauene Treppe, erreichten Marcus und Jordir über eine kleine Lichtung hinweg ein neues Waldstück, in dem alles noch viel dunkler, dichter, grüner und lebendiger war als noch zuvor. Wenn der Teil des Waldes, aus dem sie gekommen waren, ein Dschungel war, dann war dies hier dessen grünschwarzes Herz. Alles schien hier größer, aggressiver, irgendwie auch vulgärer zu sein als im restlichen Wald auf Khorinis. Die Pflanzen wuchsen in schwindelerregende Höhen und manchmal auch als Lianen von den stämmigen Bäumen herab, sattes und feuchtes Moos bildete meterlange Teppiche, Pilze quollen aus dem Boden und kämpften mit den zahlreichen, bunten Kräutern um Territorium zum Wachsen, das Summen von Blutfliegenschwärmen ließ die Luft vibrieren. Die Luft war so dick, dass sie kaum durch die Nasenlöcher passte.
    Dass hier alles größer war, galt auch für den Steinkreis, den sagenumwobenen Sonnenkreis. Marcus erkannte schon von weitem, dass die Art der Steine keine andere war als die am Steinkreis vorher, aber hier waren die Steine noch größer, in der Höhe zweier ausgewachsener Männer ragten sie empor. Neben den Konstruktionen aus zwei senkrechten und je einem quer gelegten Stein gab es hier auch einige freistehende Monolithen, und insgesamt war der Kreis viel weiter gezogen, sodass er einen Großteil dieses Areals ausmachte, das sich seinerseits auf einem verschatteten Plateau befand.
    Im Grunde sah es hier so aus, wie Marcus es sich anhand der Worte Jordirs vorgestellt hatte. Sie beide waren aber überrascht, eine weitere Gestalt hier am Sonnenkreis zu sehen, die zum Glück kein weiterer Steinwächter, sondern ein Mensch war. In ihrer braunen Lederkleidung und der dunkelblauen Kapuze verschmolz sie beinahe mit der Umgebung des Waldes, hob sich aber von den Felsen, zwischen denen sie stand, deutlich ab. Als Jordir Marcus mit stummer Geste bedeutete, dass sie sich dem Steinkreis lieber langsam und in einem großen Bogen nähern sollten, um nicht direkt ins Sichtfeld der Gestalt zu geraten, wurden sie von ihr auch schon angesprochen.
    „Ich habe euch noch eher gehört als gesehen“, rief die Frau zu ihnen herüber, keinen Deut zu laut und gerade so, dass Marcus und Jordir sie verstehen konnten. „Ich bin nicht hier, um irgendjemandem etwas zu Leide zu tun. Es sei denn, ihr seid Magier. Aber so seht ihr nicht aus.“
    Marcus und Jordir blickten sich gegenseitig an. Marcus hoffte, dass Jordir gerade so nicht unter den Begriff des Magiers fiel. Jordir schien ähnlich zu denken, zuckte dann aber mit den Schultern und spazierte frontal auf die Fremde zu. Marcus trottete ihm hinterher.
    „Wir waren eigentlich hier, um Kräuter zu sammeln“, sagte Jordir an die Fremde gewandt. „Hätte nicht gedacht, noch auf jemand anderes hier zu treffen.“ Marcus sah, dass die Fremde einen knorrig wirkenden, aber gleichzeitig sehr fein gearbeiteten, großen Bogen über der Schulter trug und an ihrer Seite ein kunstvoll mit Ornamenten verziertes, gebogenes Messer. Je näher sie ihr kamen, desto mehr von ihrem Gesicht wurde sichtbar, aber ihre Kapuze verbarg jegliche Details. Selbst ihre Haarfarbe konnte Marcus nur raten. Als er und Jordir auf etwa fünf Schrittlängen herangekommen waren und gerade in den Kreis getreten waren, streckte die Fremde mit einem Mal eine behandschuhte Hand aus und bedeutete den beiden, stehen zu bleiben.
    „Nähert euch nur vorsichtig“, sagte sie ruhig. „Und haltet Abstand vom Zentrum des Steinkreises. Seht selbst, über der zentralen Steinplatte.“
    Marcus und Jordir folgten ihrer Geste und betrachteten erstaunt, wie in einiger Entfernung über ihnen eine Art Energieball in der Größe eines Findlings schwebte, der abwechselnd blau, rot und lila pulsierte. In der Mitte des gasförmigen Balls drehte sich dabei etwas, das wie eine große, schwarze Pupille anmutete und dem Gebilde das Aussehen eines Auges verlieh. Instinktiv fasste sich Marcus gedanklich an seinen nicht vorhandenen rechten Arm, aber dort war weiterhin nichts mehr. Kein Schmerz und kein sonstiges Gefühl. Wenn er die Augen schloss, war dort alles dunkel, so, wie es sein sollte.
    „Was ist das für ein Ding?“, hörte Marcus Jordir fasziniert fragen. Als er seinen eigenen Blick wieder senkte, schreckte er auf, denn er sah, dass in einigem Abstand hinter dem zentralen Plattenfels des Kreises ein Körper lag. Es war ein Mann in roter Robe, der bäuchlings im Dreck lag, sein Gesicht von Marcus abgewandt. Die zwei Pfeile, die aus seinem Rücken ragten, sprachen Bände. Reflexhaft fuhr Marcus’ Hand an seinen Degen, aber die Fremde war schneller und hatte ihren Bogen bereits gespannt.
    „Es gibt kein Problem hier, wenn ihr keines heraufbeschwören wollt“, sagte sie ruhig, aber sehr bestimmt. „Lasst mich die Situation erklären.“
    „Hast du ihn getötet?“, fragte Jordir, der den Leichnam nun auch entdeckt hatte.
    Die Fremde nickte und setzte ihren Bogen wieder ab. Marcus sah, dass sie über ihrem rechten Handschuh einen auffälligen Ring mit blauem Stein am Ringfinger trug.
    „Mein Name ist Alia. Ich werde auch Die Magierjägerin genannt, aber diesen Beinamen lehne ich eigentlich ab. Ich jage keine Menschen wie Wild und komme nicht, um jemanden zu töten. Der Mann dort hat mir allerdings keine Wahl gelassen. Er hat mich angegriffen, während ich seinen Anführer davon abhalten wollte, durch den Sphärenriss zu gehen. Leider ist mir das nicht gelungen. Die beiden gehörten einer versprengten Zelle religiöser Fanatiker an, die sich Die Jünger Innos’ nennen.“
    „Die Jünger Innos’!“, entfuhr es Marcus.
    Alia nickte. „Ich merke, ihr wisst Bescheid.“
    In Marcus’ Kopf tobten die Gedanken wie in einem Wirbelsturm. „Dieser Anführer …“, fragte er. „Wer war das?“
    „Ein Mann namens Pater Lahache“, antwortete Alia, und Marcus’ Herz schockgefror für einen kurzen Moment. Er und Jordir sahen sich derart entsetzt an, dass Alia ein kleines, glockenhelles Lachen entfuhr.
    „Ich sehe schon, ich muss nicht mehr viel dazu erklären. Ich entnehme euren Blicken, dass ihr den Mann besser kennt als ich. Für mich war er bis vor etwa einer Stunde nur ein Phantom, dem ich im Dienste meiner Auftraggeber nachgespürt habe. Er muss schon seit gut und gerne zwei Tagen hier am Sonnenkreis mächtige Magie gewirkt haben, verbotene Feuermagie, um den Sphärenriss zu erzeugen und durch ihn hindurchzuschreiten. Ich konnte die Luft hier geradezu vibrieren spüren. Aber sobald er durch dieses Ding hindurchgetreten war, war auch seine Magie fort.“
    In diesem Moment fiel bei Marcus der Goldgroschen, so deutlich sichtbar, dass auch Alia es merkte. „Ich … ich habe es gespürt“, sagte er. „In meinem rechten Arm. Er wurde mir damals mit dieser verbotenen Feuermagie abgetrennt. Und vorletzte Nacht waren da auf einmal diese furchtbaren Schmerzen … aber seit einer Weile sind sie weg.“
    Alia nickte. „Das wird der Auslöser gewesen sein. Mit dem Verschwinden des Paters und seiner Magie durch den Sphärenriss hat sich dein Problem dann wohl erledigt. Aber dafür haben wir jetzt ein größeres Problem.“
    „Das da wäre?“, fragte Jordir.
    Alia schüttelte sachte den Kopf. „Ich habe nicht alles vom Gebrabbel dieses Paters verstanden. Aber es scheint, er wollte durch den Sphärenriss in eine andere Dimension gelangen, um dort in den Kontakt mit der sogenannten Ersten Flamme zu treten, aus der sich sämtliche Feuermagie speist. In diesem Moment wird der Pater dies weiter versuchen, wenn er nicht beim Übertritt gestorben ist. Und entweder es gelingt ihm und er erlangt eine unfassbare Macht, mit der er sonstwas anzustellen in der Lage ist. Oder aber er scheitert und es besteht die Gefahr, dass diese Macht sich unkontrolliert durch sämtliche Sphären frisst und dabei den ganzen Morgrad anzündet.“
    „Kannste dir nicht ausdenken …“, murmelte Marcus. Er fühlte sich gerade völlig geplättet, aber sein Instinkt sagte ihm, dass er jetzt handeln musste, helfen musste zu verhindern, dass dieser irre Fanatiker an noch mehr Macht gelangte. Khorinis hatten sie ja damals schon einmal vor ihm gerettet … irgendwie. „Was können wir nun tun?“, fragte er.
    Alias schmaler Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Wie schön, dass ich so schnell Mitstreiter gefunden habe. Alleine werde ich es nämlich wohl nicht mehr schaffen, den Pater zu verfolgen. Jedenfalls nicht, solange ich nicht den anderen Magier in die Finger bekomme.“
    „Den anderen Magier?“, fragte Jordir.
    Alia nickte wieder ihr charakteristisches, ruhiges Nicken. „Er ist geflohen, als es zur Auseinandersetzung mit seinem Kumpanen kam. In östliche Richtung. Aber ich kenne mich hier nicht aus, ich komme vom Festland. Und ich wollte auf keinen Fall dieses Ding hier am Sonnenkreis unbeobachtet lassen.“
    „Im Osten von hier gibt es eine Höhle“, sagte Jordir. „Ich weiß nicht, wie groß sie ist, ich habe mich noch nie hereingetraut. Aber vielleicht hat der andere Magier dort ein Versteck gesucht. Sonst gibt es hier ja nichts, und er wird sich ja wohl kaum ohne Not besonders weit vom Sonnenkreis entfernt haben.“
    „Klingt plausibel“, sagte Alia.
    „Sollen wir ihn für dich töten?“, fragte Marcus.
    Alia schüttelte den Kopf. „Das wäre die schlechteste Variante, denn wir brauchen seine magischen Kräfte, oder jedenfalls sein magisches Wissen um die verbotene Feuermagie und das hier ausgeführte Ritual, um den Dimensionsriss entweder für immer zu schließen, oder schlimmstenfalls … dem Pater in die andere Dimension nachzufolgen, um ihn dort zu stoppen. Zu letzterem würde ich euch natürlich nicht drängen, das mache ich alleine, wenn es sein muss.“
    „Das wird ja immer besser!“, sagte Jordir. Seiner Stimme war eine gewisse Begeisterung für diese fremdartigen magischen Zusammenhänge deutlich anzuhören. Marcus fand nicht, dass derartige Abenteuerlust in diesem Moment angemessen war. Aber im Gegensatz zu Marcus hatte Jordir damals ja auch nicht seinen Halbbruder wegen der Jünger Innos’ verloren.
    „Ihr müsst nicht viel mehr für mich tun, als dieses Wissen für mich zu erlangen und den Magier bestenfalls zur Kooperation zu bewegen. Aber da er nicht so gut auf mich zu sprechen sein wird, kann ich ihn nicht selber suchen. Ein Kampf mit ihm wäre an dieser Stelle völlig sinnlos. Ich hatte im Übrigen nicht das Gefühl, dass er besonders viel an seinem Anführer hängt, sonst hätte er sich ja gleich mit für ihn geopfert. Es besteht also vielleicht noch Hoffnung. Er ist Richtung Osten geflohen, wie gesagt. Er sieht so aus wie alle anderen aus dieser Sekte, in rotem Gewand und irgendwie … leicht derangiert. Aber seine Haut war auffällig dunkel. Und er war sehr groß. Ihr solltet ihn eigentlich sofort erkennen, wenn ihr ihn seht. Ich hoffe jedenfalls schwer, dass nicht noch mehr seiner Sorte hier herumlaufen.“
    „Wir machen uns sofort auf den Weg“, verkündete Marcus. Jordir stimmte mit einem entschlossenen Nicken ein.
    „Gut“, sagte Alia, ihr Gesicht unter der Kapuze von einem kleinen Funken Hoffnung erhellt. „Bitte beeilt euch. Ich halte hier solange die Stellung.“

    „Hier ist auch nichts …“, murrte Marcus, als er einen großen Busch zur Seite wischte und wieder nur die blanke Felswand vor sich sah. „Bist du wirklich sicher, dass wir hier richtig sind?“
    „Zu über neunzig Prozent“, sagte Jordir. „Vertrau mir, ich -“
    Jordir sagte noch irgendetwas, aber das konnte Marcus nicht mehr hören, als er erschrocken aufschrie und in die Tiefe fiel, nachdem er auf ein erstaunlich locker wirkendes Moosbett getreten und sodann in der Erde eingebrochen war. Nach gut einer Sekunde, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, traf er auf einen Felsboden auf, dessen raue Oberfläche sich zielsicher und äußerst schmerzhaft in seinen Rücken drückte. Immerhin nicht nochmal am Gesicht, dachte Marcus im ersten Moment, bevor seine Aufmerksamkeit weg vom Schmerz des Aufpralls hin zur Höhle wechselte, in der er gerade gelandet war. Zu seiner ersten großen Überraschung war diese mit Fackeln an den Wänden erleuchtet. Zu seiner zweiten Überraschung war der Bewohner dieser Höhle direkt zur Stelle, um seinen nicht minder überraschenden Besuch in Empfang zu nehmen: Über ihn beugte sich ein rot gewandeter, dunkelhäutiger Mann und setzte eine Miene auf, die Marcus intuitiv so deutete, dass sie nicht nur seiner Gesundheit, sondern auch und vor allem seinem plötzlichen Eindringen in die Höhle galt.
    „Ist dir etwas passiert?“, fragte der Mann in rot.
    „Ja“, antwortete Marcus. „Ich bin gerade durch ein Loch in diese Höhle hier gekracht.“
    „Das habe ich gesehen“, sagte der Fremde. „Aber du hast dich nicht schwer verletzt? Wer bist du überhaupt?“
    „Ich glaube, es tut einfach nur weh, das ist alles“, sagte Marcus. „Geht bei mir den ganzen Tag schon so. Mein Name ist übrigens Mar … Mario.“
    „Ich grüße dich, Mario. Mein Name ist Tedros“, sagte der Mann mit ruhiger Stimme und half Marcus auf. Wie sie nun nebeneinander standen, bemerkte Marcus erst, wie lang und dünn der Mann in der roten Robe war. Es konnte nur der Jünger Innos’ vom Sonnenkreis sein. Jetzt galt es, besonnen vorzugehen.
    „Marcus? Marcus!“, schallte plötzlich ein Echo durch einen gebogenen Gang hinein in den Raum, in dem Marcus und Tedros sich gerade befanden. Bevor Marcus wusste, wie ihm geschah, kam auch schon Jordir durch den Gang geeilt, seine Kleidung zum Teil bedeckt mit kleinen Erdklumpen, Blättern und Moosresten. Offenbar hatte er den richtigen Eingang zum Höhlensystem doch noch gefunden – nur leider zu einem besonders ungünstigen Moment.
    „Marcus? Wieso Marcus?“ Tedros wurde nun sichtlich nervös; seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Wer seid ihr beide?“
    Jordir blieb in einigen Metern Abstand von Marcus und Tedros stehen. Sein Blick verriet Marcus, dass er bemerkt hatte, dass er mit seinem Auftritt möglicherweise einiges vermasselt hatte.
    „Mein Name ist Mario Marcus“, erklärte Marcus, und wäre die Situation nicht so angespannt gewesen, er hätte wohl selber darüber lachen müssen. „Und das dort ist Jorgen Jordis. Wir sind Wanderer und Kräutersammler. Wir waren gerade auf der Suche nach Feuerwurzeln, als ich im Waldboden eingebrochen und durch dieses Loch gefallen bin.“
    Tedros schaute abwechselnd Marcus und Jordir tief in die Augen. Die schwarzen Pupillen des Magiers weiteten und verengten sich dabei in einem kaum merklichen, unheimlichen Rhythmus. Das Weiße seiner Augen bildete einen scharfen Kontrast zu seinen Pupillen einerseits und seiner Haut andererseits.
    „Und das soll ich euch jetzt glauben?“, fragte der Magier zitternd. „Ich glaube euch kein einziges Wort. Ihr kommt vom Sonnenkreis. Ihr … ihr gehört auch zum Ring des Wassers! Sie hat euch geschickt, um mich zur Strecke zu bringen!“
    Jordir machte einen Schritt vorwärts. „Hör mal, keiner will dir was tun. Ja, es stimmt, wir waren am Sonnenkreis. Aber wir sind nicht hier, um dich zur Strecke zu bringen oder was auch immer. Wir brauchen deine Hilfe.“
    „Keinen Schritt näher!“, gellte Tedros’ Stimme durch die Höhle. Marcus spürte Erde und feinsten Grieß von oben aus dem Loch herabrieseln, aus dem er gekommen war.
    „Es gibt nichts, wobei ich euch helfen könnte. Verschwindet!“
    „Doch“, schaltete Marcus sich nun ein. „Du könntest uns dabei helfen, durch das Portal am Sonnenkreis zu gehen. Wenn du uns verrätst, wie das geht, dann können wir dem Anführer nachfolgen. Wir … wir wollen nämlich auch Jünger Innos’ werden.“
    „Ihr wollt was?!“, entfuhr es Tedros. Der Magier hatte sich schräg zu Marcus gestellt, offenbar bereit, ihn entweder anzugreifen oder zu fliehen. „Seid ihr verrückt geworden? Das ist ein Irrweg! Diese Sekte bringt nur Unheil!“
    „Marcus, ich denke, wir sollten mit offenen Karten spielen“, sagte Jordir und machte einen weiteren ganz kleinen, vorsichtigen Schritt auf die beiden zu. „In Wahrheit wollen wir den Jüngern Innos’ nicht beitreten, sondern Pater Lahache das Handwerk legen. Dafür brauchen wir deine Hilfe. Das Portal muss geschlossen werden, damit Lahache nicht in unsere Dimension zurückkann. Oder aber, wir folgen ihm und halten ihn davon ab, die Erste Flamme zu berühren.“
    „Es stimmt, was er sagt“, pflichtete Marcus Jordirs Worten rasch bei, in der Hoffnung, Tedros doch noch überzeugen zu können.
    „Du … du bist ein Lügner! Du, und du, ihr alle beide! Woher soll ich wissen, was von dem die Wahrheit ist, was ihr erzählt? Ich will mit dieser ganzen Sache nichts zu tun haben. Lasst mich in Frieden! Und wenn ihr nicht auf der Stelle von hier verschwindet …“. Tedros griff in die rechte Seitentasche seiner Robe und zog von dort einen kleinen Runenstein hervor. „… dann werdet ihr das bereuen.“
    Geändert von John Irenicus (13.01.2024 um 11:39 Uhr)

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    Für Marcus war der Anblick des Feuermagiers mit Rune in der Hand im wahrsten Sinne ein rotes Tuch. Er wusste kaum, wie ihm geschah, als sich seine Füße vom Boden abstießen und er mit einem Hechtsprung in den Magier prallte, ihn von den Beinen riss und auf ihn drauf fiel. Ein schmerzerfüllter Schrei gellte durch die Höhle, als der Magier den Runenstein fallen ließ. Einen Augenblick später kam Jordir angerannt, legte seinen zum Kampfstab umfunktionierten Ast drohend über den Hals des Magiers und drückte ein wenig zu, um zu verhindern, dass Tedros irgendetwas anderes machte als nach Luft zu japsen.
    „Okay, okay, ganz ruhig“, röchelte Tedros, dem bereits die Schweißperlen auf der hohen Stirn standen. „Wir müssen das hier nicht mit Gewalt lösen. Ich verschone euch, wenn ihr mich loslasst.“
    „Die Frage ist, wer hier wen verschont“, knurrte Jordir und drückte noch ein kleines bisschen fester mit dem Stab zu. Marcus fand, dass sein Kumpane etwas zu sehr überzog. Marcus verlagerte sein Gewicht und durchsuchte die Robentaschen des Magiers, wo er eine Handvoll Zauberrunen hervorzog, die er hinter sich auf dem Höhlenboden drapierte. Dann ließ er von Tedros ab.
    „Reicht dann auch, Jordir“, sagte er, als er aufstand und den unteren Teil des Körpers des Magiers freigab. „Ohne seine Runen kann er ja nichts machen.“ Marcus stellte sich demonstrativ vor die kleine Ansammlung magischer Artefakte auf dem Boden. Dann gab Jordir endlich nach und ließ den Magier aufstehen. Tedros’ lange Beine zitterten sichtbar unter der weiten Robe, als er sich aufrichtete. Marcus tat ihm jetzt sogar leid. Jordir hingegen schien das nach wie vor anders zu sehen.
    „Du sagst uns jetzt, wie wir Pater Lahache das Handwerk legen können und hilfst uns dabei. Sonst …“
    „Sonst was?“, fragte Tedros in einem bemüht trotzigen Tonfall, der seine Angst in diesem Moment aber nicht wirklich übertünchen konnte. Da er keinerlei Anstalten machte, in den weiteren Höhlengang hinter ihm zu fliehen, ging Marcus davon aus, dass er in einer Sackgasse endete. Er und Jordir versperrten den einzigen Ausgang.
    „Sonst liefern wir dich der Magierjägerin aus“, sagte Marcus, um etwaigen unvernünftigen Drohungen Jordirs zuvorzukommen.
    „Vom Regen in die Traufe …“, seufzte Tedros und zuckte dann mit einem Mal zurück, als Jordir sich etwas vorbeugte, um die Runensteine aufzusammeln. „Windfaust, Sturmfaust, Telekinese, Kugelblitz … ungewöhnlich für einen Feuermagier.“
    „Ich habe es doch gesagt, ich will mit den Jüngern Innos’ nichts mehr zu tun haben, und am liebsten auch nichts mehr mit Feuermagie! Am Anfang klang alles gut, was Lahache erzählt hat. Ich habe viel von ihm gelernt und bin in den Kreisen der Magie so schnell und so weit aufgestiegen, wie ich es zuvor bei keinem anderen Mentor erlebt habe. Ich habe förmlich an seinen Lippen gehangen. Ich gebe zu, dass ich ihm ganz schön auf den Leim gegangen bin. Das habe ich leider zu spät gemerkt. Ich habe schon die ganzen letzten Wochen mit mir gehadert, ob ich die Jünger Innos’ nicht verlassen soll. Aber das ist alles andere als einfach. Wer von dort geht, der fällt ins Nichts – wenn er nicht von einem der Mitglieder aufgespürt und für den Treuebruch zur Rechenschaft gezogen wird. Als Lahache am Sonnenkreis das Portal geöffnet hat und Miloš von der Magierjägerin getötet worden ist … da habe ich die Chance im ganzen Chaos einfach genutzt und bin abgehauen.“
    „Warum sollten wir dir glauben?“, fragte Jordir, nachdem er den letzten der Runensteine in seinem Rucksack verstaut hatte. „Ich meine, erst sich ganz dem Jüngertum verschreiben und dann auf einmal irgendwie … aufwachen? Das passiert doch nicht von jetzt auf gleich.“
    Tedros schüttelte sachte den Kopf. „Es war eine schleichende Entwicklung. Und sie hat ihren Anfang genommen, als Lahache einen Menschen geopfert hat, um an mehr Macht zu gelangen. Ein Mensch, der zufälligerweise mein Bruder war. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.“ Tedros verstummte und sah betreten zu Boden. Marcus’ Sympathie für ihn wuchs, aber gleichzeitig verstand er, dass nur er ihnen dabei helfen konnte, Lahache aufzuhalten. In einem solchen Fall waren Samthandschuhe fehl am Platz – für alle Beteiligten.
    „Wenn das so ist, dann sollte es dir ja nicht schwer fallen, dich von deiner Schuld reinzuwaschen, indem du uns hilfst“, erklärte Marcus. Seine Zunge war irgendwie pelzig beim Sprechen. So schmeckte das also, wenn man Schwächere bedrohte. „Normalerweise sollten wir dich direkt der Magierjägerin ausliefern. Aber wenn du uns dabei hilfst, Lahache aufzuhalten, dann legen wir ein gutes Wort für dich ein.“
    Tedros schwieg weiter mit finsterer, verhärteter Miene, während Jordir ihn streng ansah und seinen Kampfstab fest in beiden Händen packte. Er sah in diesem Moment wirklich wie ein übereifriger Folterknecht aus, der gerade aus dem Urlaub wiedergekommen war und dringend wieder an die Arbeit wollte.
    „Innos sei verdammt, ich habe wohl keine andere Wahl, was?“, raunte Tedros. „Ich kann nirgendwo anders hin. Und wenn ich es irgendwie vermeiden kann, vor eines der Scherbengerichte des Rings des Wassers geführt zu werden …“
    Jordir lächelte und ließ seinen Kampfstab sinken. „Die richtige Entscheidung“, sagte er. „Wir sind ganz Ohr.“
    „Man braucht einen Zauber, und man benötigt das Wissen, um durch die Irrungen und Wirrungen des Sphärenlabyrinths zu gelangen, das sich hinter dem Dimensionsriss auftut. Wer es richtig anstellt, kann sich binnen weniger Sekunden hindurch navigieren. Lahache hat es mit einigen seiner engsten Vertrauten geübt. So auch mit mir.“
    „Und wohin führt dieses Sphärenlabyrinth?“, fragte Marcus.
    „Es führt überall dorthin, wohin man sich verirrt. Aber Lahache hat es durchschritten, um in die Sphäre der Flamme zu gelangen. Ich selbst war noch nie dort, aber es soll Menschen geben, die bereits dorthin gereist sind. Es ist der Ort, den Innos als seinen Sitz erschaffen hat. Es ist eine kleine Welt voller urtümlicher, feuriger Energie. In ihrem Zentrum liegt eine schwebende Felsinsel, auf der Innos die Flammenfeste, seine Heimstatt, erbaut hat.“
    „Das klingt alles fast zu fantastisch, um wahr zu sein …“, murmelte Marcus.
    „Das kann ich verstehen. Aber Lahache hat es so erzählt, und er ist kein Lügner im eigentlichen Sinne. Seine Forschungen hat er so akribisch wie detailgetreu durchgeführt, und ich habe ihm dabei assistiert. Das Problem war nie, dass Lahache Unwahrheiten gepredigt hat. Das Problem war, dass ich seinen Wahrheiten zu lange gefolgt bin.“
    „Und in dieser Flammenfeste befindet sich Lahache nun?“, warf Jordir von der Seite ein.
    Tedros nickte. „Ich gehe davon aus, dass Lahache bereits in die Flammenfeste eingedrungen ist, um am Schrein der Tränen zu beten, bis Innos ihm Kontakt zur Ersten Flamme gewährt. Was dann passiert, weiß niemand. Lahache verspricht sich davon große Macht, aber wenn er nicht in der Lage ist, diese Macht zu bändigen, kann er auch unbeabsichtigt großes Chaos heraufbeschwören. Lahache ist jedenfalls zu allem bereit. Wie lange das Ritual am Schrein der Tränen dauert, weiß auch niemand. Es kann Stunden, aber auch Jahre dauern. In anderen Dimensionen verläuft die Zeit anders als hier. Was in der Flammenfeste eine Stunde ist, kann hier einem oder sogar mehreren Tagen entsprechen.“
    „Das heißt, wir haben noch eine Chance, Lahache vor der Vollendung seines Rituals zu erwischen und ihn zu stoppen?“
    Tedros nickte abermals. „Noch steht der Morgrad nicht in Flammen.“
    „Und das soll bitte auch so bleiben“, schloss Jordir. „Dann würde ich mal sagen, wir machen uns auf den Weg zum Portal, oder? Marcus?“
    Jetzt war es an Marcus, zu nicken. Zu mehr war er gerade auch nicht in der Lage, so voll war sein Kopf mit Gedanken und Bildern.
    „Damit wir sicher durch das Portal kommen, brauche ich allerdings die entsprechende Zauberrune“, warf Tedros nun ein. „Lahache hat auch so eine benutzt. Wenn ihr mir meine Runen also wieder zurückgeben würdet …“
    Jordir lächelte und kniete sich neben seinen Rucksack, den er zwischenzeitlich abgesetzt hatte. „Ich habe sogar noch eine viel bessere Idee“, sagte er. Einen Augenblick später zog er ein dickes Seil aus seinem Rucksack hervor. „Damit du uns nicht abhaust. Und deine Rune bekommst du dann vor Ort wieder, keine Sorge.“
    Tedros öffnete den Mund, um zu protestieren, aber nach einem Blick auf Marcus, mit dem er Hilfe suchte, aber keine fand, schloss er seinen Mund wieder, ließ seine Schultern hängen und streckte missmutig seine Arme nach Jordir aus.

    Als sie in Sichtweite des Sonnenkreises angekommen waren und Tedros die verhüllte Gestalt an einem der Monolithenpaare erblickte, hätte er fast Reißaus genommen. Lediglich ein beherzter Griff Jordirs an die provisorischen Handfesseln des Magiers konnten ihn davon abhalten, stiften zu gehen.
    „Ihr habt mich verarscht!“, rief Tedros entsetzt, seine Augen schreckgeweitet. „Ihr bringt mich direkt zur Magierjägerin! Warum? Wir hatten doch eine Abmachung!“
    „Nur die Ruhe.“ Marcus legte dem Magier eine Hand auf die Schulter. „Die bewacht nur das Portal. Und wir legen ein gutes Wort für dich bei ihr ein, das haben wir dir versprochen und daran halten wir uns auch.“
    „Und außerdem“, warf Jordir fast vergnügt ein, „hast du ja eh keine Wahl, wie du schon erkannt hast. Wenn du jetzt wegläufst, macht das erst recht keinen guten Eindruck. Und ich glaube, die findet dich dann schon wieder, auch ohne unsere Hilfe.“
    Tedros sagte zu alledem gar nichts mehr und folgte Marcus und Jordir mit gesenktem Haupt zur Mitte des Steinkreises.
    „Wir haben ihn gefunden“, sprach Marcus das Offensichtliche aus. „Er kennt eine Möglichkeit, durch das Portal zu schreiten. Er hat die passende Zauberrune und das nötige Wissen dazu.“
    „Gut“, sagte Alia an den Magier gewandt. „Dann werde ich die Verfolgung des Paters mit deiner Hilfe so bald wie möglich wiederaufnehmen. Sei gewiss, dass das bei meinen Auftraggebern als Wiedergutmachungstat berücksichtigt werden wird. Je weiter du dich von Lahache und den Jüngern Innos’ lossagst, desto besser.“
    „Er hat sich bereits von ihnen losgesagt“, erklärte Marcus. „Und das ziemlich glaubhaft. Er will nichts mehr mit Lahache zu tun haben und ist deshalb bereit -“
    Er kann auch für sich selbst sprechen.“ Tedros entledigte sich mit einem energischen Ruck dem Griff Jordirs, der ihn noch immer an den Fesseln festgehalten hatte. „Er will in der Tat nichts mehr mit den Jüngern zu tun haben. Er will aber auch nichts mit dem Ring des Wassers zu tun haben, und schon gar nicht mit der Magierjägerin, die vorhin noch einen anderen Magier kaltblütig getötet und es nicht einmal für nötig befunden hat, seine Leiche aus dem Weg zu räumen.“ Tedros wies mit den gefesselten Armen auf die Leiche des Magiers, die nicht weit von Alias Füßen lag. „Wenn er also helfen soll, dann nur unter einer Bedingung.“
    Marcus hatte von Alia eine Art von Rechtfertigung ihrerseits erwartet, aber die hatte sie offenbar gerade heruntergeschluckt. Als sie sprach, war ihre Stimme ruhig, kühl und fest.
    „Ich glaube nicht, dass du in der Position bist, irgendwelche Bedingungen zu stellen, aber als Zeichen, dass wir keine Unmenschen sind: Was verlangst du?“
    „Die Bedingung ist, dass du hier bleibst. Ich traue dir nicht, wahrscheinlich noch weniger als du mir traust. Wer weiß schon, was die Magierjägerin tut, wenn ich mit ihr durch den Sphärenriss schreite? Woher soll ich wissen, wie weit deine Versprechen, mich zu verschonen, dann noch reichen? Ich werde Marcus und Jordir mit in die andere Dimension nehmen, aber mit jemandem, vor dem ich mich so in Acht nehmen muss, wird es schlicht nicht funktionieren.“
    Alia antwortete nicht sofort. Marcus wusste nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Mit einem Mal sollten er und Jordir es sein, die durch das Portal in eine völlig unbekannte Dimension schritten? Allein die Vorstellung ließ in ihm einen unbestimmten Widerwillen erwachen. Andererseits: Die Vorstellung, dass Lahache schalten und walten konnte wie er wollte, war noch ein ganzes Stück unerträglicher. Marcus’ eigene Geschichte war seit den Geschehnissen damals untrennbar mit derjenigen des Paters verwoben. Vielleicht war nun der Zeitpunkt gekommen, diese unfreiwilligen Bande endgültig zu kappen und die Geschichte zu einem Ende zu bringen.
    „Also gut. Ich bleibe hier. Es ist mir ohnehin lieber, wenn jemand vom Ring das Portal bewacht, dann kann ich das gleich selbst tun. Und euch beiden …“, sie blickte zu Marcus und Jordir, „… merke ich an, dass ihr mindestens ebenso gute persönliche Gründe habt wie ich, Lahache aufzuhalten. Ich vertraue euch.“
    „In Fesseln werde ich euch aber nicht helfen können“, warf Tedros ein.
    „Eins nach dem anderen.“ Jordir begann, aus seinem Rucksack nach und nach Runensteine hervorzuziehen und Tedros einzeln zu ihnen zu befragen. Offenbar wollte er verhindern, dass Tedros in den Besitz irgendeines zerstörerischen anderen Zaubers gelangte, noch dazu im – sodann im wahrsten Sinne des Wortes – entfesselten Zustand. Während die beiden engagiert um die Runensteine feilschten, nahm Alia Marcus zur Seite.
    „Ich gehe davon aus, dass du weißt, dass Lahache ein mächtiger Magier ist und dass deine Aufgabe eine hochgefährliche sein wird.“
    Marcus nickte. „Habe ich alles schonmal am eigenen Leib erfahren.“
    „Gut. Dann lass dir aber gesagt sein: Kein Magier, und sei er noch so mächtig, ist unsterblich.“
    Alia löste das verzierte, geschwungene Messer von ihrem Gürtel, steckte es in eine kleine, schwarze Scheide und gab diese an Marcus, der sie sich mittels eines kleinen Bändchens am eigenen Gürtel festmachte.
    „Diese Messerklinge trägt ein hochpotentes Gift“, erklärte Alia. „Sei unter allen Umständen vorsichtig mit dieser Waffe. Und wenn sich die passende Gelegenheit bietet …“ Sie sah Marcus scharf an. „Verstanden“, sagte dieser nur.
    „Wir wären dann so weit“, sagte Jordir, der sich seinen Rucksack wieder aufgesetzt hatte, neben ihm Tedros, der missmutig den Runenstein in seinen – mittlerweile entfesselten – Händen besah. Offenbar hatte Jordir ihm ausreden können, dass er zusätzlich auch noch seine ganzen anderen Angriffszauber benötigte.
    „Gut“, sagte Alia. „Dann tut, was ihr tun müsst. Ich werde in der Zwischenzeit über den Sonnenkreis wachen. Viel Glück.“
    Marcus wollte gerade laut fragen, wer denn in der Zwischenzeit über sein Lager am Hafen wachte, aber das wirkte mit einem Mal wie ein Problem, das aus einem längst vergangenen Leben stammte.
    „Ihr müsst euch neben mir aufstellen und euch an den Händen fassen“, sagte Tedros, der sich bereits unter den schwarz-lila wabernden Dimensionsriss gestellt hatte. Marcus und Jordir reihten sich wie zwei Schulkinder an den Händen gefasst rechts neben Tedros ein. Jordir stand in der Mitte und ergriff zusätzlich Tedros’ ausgestreckte Rechte. In der Linken hielt der Magier den Runenstein, der bereits weißlich glomm. Marcus erwartete, dass gleich ein magischer Schmerz durch seinen Körper und helle Blitze durch sein Gesichtsfeld zucken würden, aber offenbar war dieser Dimensionszauber keiner, der seinen Ursprung in der verbotenen Feuermagie hatte.
    „Lasst nicht los, was auch immer passiert“, mahnte Tedros. „Und schließt eure Augen. Ich werde euch durch das Dimensionslabyrinth in die Sphäre der Flammen führen. Wenn alles gut geht, werdet ihr vom Weg dorthin gar nichts mitbekommen.“
    „Und wenn es nicht gut geht?“, fragte Jordir, aus dem dabei hörbar weniger Angst und Sorge als Faszination und Neugier sprachen.
    Tedros verzog das Gesicht. „Das weiß niemand. Und ich will nicht derjenige sein, der es herausfindet. Seid ihr bereit?“
    „Ja“, antworteten Marcus und Jordir mit geschlossenen Augen. Marcus erwartete, dass Tedros nun noch bis drei zählen würde oder dergleichen, aber Tedros tat nichts in der Richtung. Tedros schien überhaupt gar nichts zu tun, und hätte Marcus nicht die Hand des Magiers fest in seiner eigenen gespürt, er hätte wohl geglaubt, dass Tedros ihn soeben auf die billigste Art und Weise ausgetrickst und sich auf und davon gemacht hatte.
    „Wie lange wird es denn dauern?“, hörte Marcus Jordir fragen.
    Als Tedros antwortete, war die Belustigung in seiner Stimme unüberhörbar. „Ihr könnt die Augen jetzt aufmachen. Wir sind da.“
    Langsam und vorsichtig, als wären seine Lider aus zerbrechlichem Glas, öffnete Marcus die Augen.
    Er sah ein rauschendes Flammenmeer. Links von ihnen, rechts von ihnen, über ihnen und in vielen Metern Abstand auch unter ihnen. Das Flammenmeer über ihnen entpuppte sich bei näherem Hinsehen als eine Art Himmel, aber ohne Wolken, Sonne und Gestirne, sondern einfach nur ein tiefes Rot, das ins Nichts führte. Der Horizont verschwamm mit einer Masse aus geräuschvoll walzendem Magma, das irgendwo in einem zentralen Punkt im Inneren dieser Sphäre zusammenfließen mochte und dabei niemals erstarkte oder versiegte. Trotz des fließenden Feuers war es nicht besonders heiß, eine Temperatur schien es in dieser Sphäre gar nicht zu geben, alles erschien seltsam körperlos. Marcus fühlte sich, als würde er auf Watte stehen. Direkt vor ihnen brach das Steinplateau ab, der Teil einer einst langen Hängebrücke hing schlaff von der Klippe herab und wurde nur um ein Haar nicht vom Flammenmeer verschlungen. Am anderen Ende der langen Kluft, über die die Hängebrücke einst geführt hatte, schwebte eine weitere Steininsel, auf der eine große, starke Festung aus dunkelgrauem Stein gebaut war. Mit ihren Ecktürmen, der Vielzahl an kleinen und großen Erkern, Balustraden, Simsen und Pilastern, den massiven Mauern und dem riesigen Tor erweckte sie den Eindruck einer Trutzburg gegen alle Feinde dieser und anderer Welten. Marcus rieb sich die Augen um sich zu vergewissern, dass er nicht bloß sehr schlecht träumte.
    „Es ist genau so, wie Pater Lahache es in seinen Visionen beschrieben hat“, sagte Tedros. Die Ehrfurcht in seiner Stimme war unüberhörbar.
    „Magie … ist schon etwas Großartiges, was?“, sagte Jordir ganz verzückt. Nur einen Augenblick später wurde er aber aus seiner Schwärmerei gerissen. „Marcus … was machst du da? Dein Arm!“
    Verblüfft hörte Marcus auf, sich die Augen zu reiben. Genau in diesem Moment bemerkte er, was Jordir auch längst bemerkt hatte. Er hatte sich mit beiden Händen die Augen gerieben. Mit der linken und der rechten Hand. Und zur rechten Hand gehörte auch ein rechter Arm. Er war wieder da, wie durchgebrochen durch den verknoteten Hemdsärmel, der nun halb abgerissen an ihm herunterbaumelte. Die Haut unterschied sich von der seines linken Arms, sie war viel heller, schimmerte fast weiß. Aber abgesehen davon war es unverkennbar sein Arm.
    „Wie ist das möglich?“, fragte Marcus, als hätte so eine Frage in der ohnehin bereits von vorne bis hinten unmöglichen Situation, in der sie drei sich gerade befanden, überhaupt noch Sinn gemacht.
    „Die verschiedenen Dimensionen funktionieren zum Teil unabhängig voneinander“, erklärte Tedros. „In dieser Sphäre hast du deinen Arm niemals verloren.“
    Marcus nickte dem Magier zu, als hätte er verstanden, was er da gerade gesagt hatte, und konnte gar nicht aufhören, seinen Arm zu betasten.
    „Stichwort verloren“, fuhr Tedros dann etwas weniger selbstsicher fort. „Ich glaube, mein Runenstein ist mir beim Eintritt ins Portal aus der Hand gefallen.“ Er wandte seinen Kopf hoch zum Gegenstück des Portals am Sonnenkreis, das auch hier wie ein schwarz-violetter Augenball einige Meter über ihnen pulsierte. „Wenn wir da wieder zurückwollen, müssen wir wohl an Lahaches Rune gelangen.“
    „Das dürfte dann wohl noch der leichteste Part an der ganzen Sache werden“, sagte Jordir und blickte bestimmend zur Festung auf der anderen Insel. „Da müssen wir rein, nehme ich mal an?“
    Tedros nickte, in seiner roten Robe verschwamm er fast mit dem Horizont. „Das ist die Flammenfeste. In ihr befindet sich der Schrein der Tränen. Lahache scheint das Tor hinter sich wieder verschlossen zu haben.“
    „Und die Hängebrücke hat er auch noch zerschnitten, oder wie?“, fragte Jordir. „Wie sollen wir rüberkommen?“
    Tedros ging bis an den Rand der Klippe und begutachtete die zwei Teile der Hängebrücke auf ihrer Insel und der Insel voraus. Er schwieg für eine ganze Weile.
    „Per Telekinese“, sagte er dann.
    „Du willst uns dort rüberschweben lassen?“, fragte Jordir entgeistert. „Nie im Leben! Ein kleiner Wackler, und wir gehen baden. Heiß baden, wohlgemerkt.“
    „Telekinese an Menschen funktioniert nur schlecht. Nein, ich kann stattdessen die beiden losen Enden der Hängebrücke anheben, sodass wir herübergehen können. Wenn ich es denn kann.“
    „Und, kannst du?“, fragte Jordir.
    „Zu erst einmal brauche ich meine Runen zurück“, sagte Tedros fast trotzig.
    Jordir seufzte, setzte seinen Rucksack ab und zog einen Runenstein nach dem anderen heraus. „Du wirst hier ja wohl keinen Unsinn mehr damit anstellen“, sagte er.
    Während Jordir die Runensteine an Tedros übergab, klinkte sich Marcus wieder ins Gespräch ein, nachdem er halbwegs verarbeitet hatte, dass er nun wieder zweiarmig unterwegs war.
    „Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, scheint es allein damit aber nicht getan zu sein, oder?“
    Tedros, der die Runensteine zurück in seine Robe gleiten ließ, wo sie glücklich klackerten, trug eine zerfurchte Stirn zur Schau.
    „Die Telekinese ist kein einfacher Zauber, zumal bei einem so großen Objekt und bei so langer Wirkungsdauer. Und wenn es stimmt, was Pater Lahache erzählt hat … und daran habe ich keine Zweifel … dann ist magische Energie in dieser Sphäre endlich.“
    „Was heißt das?“, fragte Jordir interessiert.
    „Das heißt, dass magische Energie, die ein Mensch verbraucht, von seinem Wirker nicht mehr regeneriert werden kann. Die geistigen Kräfte bauen sich beim Wirken von Magie hier rapide ab. Das Mana, das aufgewendet wird, bleibt für immer verloren, und wenn man Pech hat, auch der eigene Verstand. Lahache wusste das. Deshalb hat er in Vorbereitung auf diese Reise seine magischen Kräfte ins Unermessliche erhöht.“
    „So, wie du redest, habe ich nicht das Gefühl, dass dich das vom Weitermachen abhalten wird“, sagte Marcus.
    Tedros schmunzelte. „Du hast eine gewisse Art, Menschen zu lesen, kann das sein? Ja, es ist ein Opfer, aber ich bin bereit, es zu bringen. Vielleicht wird es den größten Teil meiner magischen Kräfte aufbrauchen, aber wen kümmert es? Vielleicht wäre das sogar das beste Ende für meine Zeit als Feuermagier. Einmal noch die Flammenfeste sehen, einmal den Schrein der Tränen betreten – und dann ist Schluss. Welcher Magier kann das schon von sich behaupten?“ Tedros verstummte und sah herüber zur Festung.
    „Tja, dann … auf los geht’s los, würde ich mal sagen, oder?“, meinte Jordir. „Ich will ja nicht drängeln, aber …“
    Tedros nickte. „Ich werde es nicht lange schaffen, die Brückenteile hochzuheben, aber es dürfte genug Zeit sein, damit einer von euch bis zur Mitte laufen und die Teile wieder zusammenbinden kann.“
    „Ein Seil habe ich ja noch.“ Jordir zog das ehemalige Fesselungsutensil aus seinem Rucksack hervor. „Ich würde es dann wagen.“
    Tedros nickte und atmete einmal tief durch. „Gut. Bereit?“
    „Bereit!“
    In überraschend dramatischer Pose riss Tedros beide Arme hoch, in der linken Hand einen seiner Runensteine, und schloss die Augen. Die Spannung in seinem Körper war auch für Marcus und Jordir spürbar. Es dauerte nicht lange, da richteten sich beide Teile der Hängebrücke zugleich und wie von Geisterhand gezogen auf. Jordir sprintete umgehend los, das Seil um seine rechte Schulter gewickelt. Marcus sah seinem bulligen Kumpanen hinterher, wie er über unregelmäßig geformte, teils zersplitterte Trittbretter zur Mitte der Brücke hechtete, der Untergrund stets wackelnd und die Seile an den Seiten zitternd. Auf Tedros’ Stirn bildeten sich bereits Schweißperlen, sein Kiefer war so angespannt, dass Marcus fürchtete, der Magier beiße sich jeden Moment auf die Zunge. Marcus zuckte zusammen, als Jordir durch eines der Trittbretter brach, sich aber gerade noch an den Seilen festhalten und sich wieder hochziehen konnte. Tedros schlug kurz seine Augen auf, um zu sehen, wo Jordir gerade war. Marcus deutete das als Zeichen, dass der Magier, der jetzt deutlich vernehmbar keuchte und selbst zitterte, nicht mehr lange durchhalten würde. In Marcus entstand der Drang, Jordir hinterherzulaufen. Aber dann verstand Marcus, dass die einzige Möglichkeit darin bestand, dass Jordir die Aktion gelang. Niemals würde Tedros es schaffen, die Telekinese lange genug aufrecht zu erhalten, bis sie alle die Brücke überquert hatten.
    Mit einem Stöhnen sank Tedros auf die Knie, die Augen immer noch fest in Konzentration verschlossen. Ein Stoß ging durch die Brücke, der Jordir kurzzeitig von den Füßen hob; aber der Alchemist landete so sicher wie ein Gymnast. Dann hatte er die Stelle erreicht, an der sich die Brückenteile beinahe berührten. Marcus konnte die beschädigte Stelle von hier nicht sehen, aber offenbar erkannte Jordir eine Möglichkeit, die Teile wieder festzuzurren. Er hatte nur ein Seil, weshalb er die Konstruktion in der Mitte zusammenband. Mit großen, wuchtigen Bewegungen zog er das Seil fest, verknotete es, wo er nur konnte. Marcus bangte und hoffte. Als Tedros neben ihm endgültig zusammenbrach, eilte er sofort zu ihm hin, hatte aber auch ein Auge auf die Brücke. Sie zitterte, wackelte und bekam Schlagseite, sodass Jordir für einen kurzen Moment nur noch auf Seilen tanzte – aber sie hielt. Jordir winkte die beiden aus der Ferne heran.
    „Tedros!“ Marcus griff dem benommenen Magier unter die Arme und zog ihn auf die Füße. „Du hast es geschafft!“
    „Kommt!“, rief Jordir und machte sich daran, über die verdrehte Brücke hinweg zur anderen Seite zu balancieren.
    „Ich … kann nicht“, keuchte Tedros.
    „Doch, kannst du.“ Marcus zog den Magier mit sich auf die Brücke, den linken Arm um den schlanken Mann gelegt, die rechte Hand immer am Seilgeländer der Brücke. Tedros leistete Widerstand, war aber zu schwach, um Marcus auszubremsen.
    „Pass auf, wo du hintrittst. Schritt für Schritt.“
    „Ich habe alles verloren“, wimmerte Tedros. „Ich dachte, ich wäre darauf vorbereitet, aber jetzt … vielleicht war alles falsch.“
    „Du bist erschöpft“, sagte Marcus. „Da denkt man manchmal solche Sachen.“
    „Ich habe nur Unheil gebracht“, hauchte Tedros. „Ich hätte euch nie hierhin führen sollen. Wir hätten das Portal schließen und Lahache für immer einsperren sollen.“
    „Lahache hätte andere Wege hinaus gefunden. Komm jetzt.“
    „Nein. Wir müssen zurück und das Portal versiegeln.“
    „Tedros, die Brücke wird nicht ewig halten! Komm jetzt!“
    „Nein!“ Tedros schrie und riss sich mit einem Ruck von Marcus los, der die Brücke zum Schwanken und Tedros selbst zu Fall brachte. Ehe Marcus sich versah, war der Magier zur linken Seite der Brücke hin in ein Loch der Seilkonstruktion gerutscht; nur noch eine Hand klammerte sich verzweifelt an ein schmales Trittbrett. Marcus wollte etwas rufen, aber der Atem wurde ihm vollständig aus dem Körper getrieben, als er hektisch nach Tedros’ Hand griff. Es war zu spät. Den Magier verließen die Kräfte und er fiel von der Brücke hinein in den Flammenschlund. Ohne Schreie, ohne auch nur einen einzigen Ton. Marcus starrte ihm wie festgefroren hinterher, aber schon bald erkannte er den rot gewandeten Mann inmitten der zähen Feuerströme gar nicht mehr. Marcus’ Herz fühlte sich an, als ob eine riesige, unsichtbare Hand es mit aller Macht zusammenquetschen würde.
    „Marcus!“, rief Jordir von drüben, der das ganze Geschehen mit angesehen haben musste. Hektisch wies er auf die Brücke, die in der Tat immer wackeliger erschien und beunruhigende, knarrende Geräusche von sich gab. Marcus rappelte sich auf und machte sich, so schnell es ging, auf den Weg zum rettenden Ufer der schwebenden Insel vor ihm. Mit Händen und Füßen hielt er sich an der Seil-und-Bretter-Konstruktion fest, wo es nur ging, versuchte, die leichte Verdrehung der Brücke auszugleichen, kämpfte gegen ihre Schlagseite an. Als er zügig, aber gleichwohl vorsichtig über die Mitte hinwegbalancierte, erkannte er, dass die Brücke zwar nicht am seidenen Faden, aber doch an einem einzelnen Seil zusammenhing, dem man sein Leben nicht eine Sekunde länger als nötig anvertrauen wollte. In Marcus blitzte der makabre Gedanke auf, dass es der Stabilität der Brücke nur zupass kam, dass sie nunmehr eine Person weniger zu tragen hatte. Marcus schüttelte den Gedanken ab. Nach viel zu vielen Sekunden, in denen er gefühlt kaum einen Atemzug getan hatte, war er auf der anderen Seite angekommen, wo Jordir ihn direkt in Empfang nahm.
    „Marcus, ich kenne dich lange genug, um zu erahnen, was gerade in dir vorgeht“, sagte er und legte eine Hand auf Marcus’ Schulter. „Aber lass dir gesagt sein, dass du nicht daran schuld bist. Tedros hat es selber vorhergesagt, was mit dem Verstand eines Magiers hier passieren kann. Er wusste um das Risiko.“
    Marcus stützte sich auf seinen Oberschenkeln auf und nickte. Genau genommen waren diese Gedanken gar nicht in ihm vorgegangen – jedenfalls bis Jordir sie jetzt in ihn eingepflanzt hatte. Aber für Schuldgefühle war keine Zeit. Vor ihnen ragte die Flammenfeste hoch in den Himmel hinauf. Jordir schritt zum großen, zweiflügeligen Holztor, das in etwa dreimal so hoch wie er selbst war. Das Tor war in seiner jetzigen Gestalt wie eine Wand: Weder Griff, noch Schloss, noch Scharnier waren vorhanden und auch sonst kein Hinweis darauf, wie die Türe zu öffnen waren. Jordir klopfte ratlos auf das verschlungene Relief der Toroberfläche.
    „Massiv. Die tritt nicht einmal ein Troll ein. Und jetzt? Wir könnten warten, bis Lahache fertig ist. Irgendwann wird er die Festung ja wieder verlassen wollen und das Tor dafür öffnen müssen. Und dann schlagen wir zu.“
    „Toller Plan“, sagte Marcus. „Du lässt dich dann hoffentlich aber auch als erstes von ihm verbrennen. Wenn wir warten, bis er mit seinem Ritual fertig ist, ist es doch höchstwahrscheinlich schon zu spät. Dann ist er mächtiger als je zuvor.“
    „Aber du hast doch von der Magierjägerin eine Waffe bekommen.“ Jordir wies auf den Dolch in der Scheide an Marcus’ Gürtel. „Damit sollte er doch besiegbar sein. Einmal rein in seinen Wanst mit dem Ding und die Sache ist erledigt.“
    „So einfach kann sich das wohl nur jemand vorstellen, der noch nie gegen diese Magier gekämpft hat“, entfuhr es Marcus. Kurz darauf tat es ihm schon leid.
    „Mach mal halblang, weder du noch ich haben uns das ausgesucht. Mag sein, dass er dann noch gefährlicher ist, wenn wir abwarten. Aber was ist denn dein Vorschlag? Wir kommen durch dieses Tor nicht durch!“
    „Dann müssen wir eben einen anderen Weg finden!“
    „Aha. Und wo soll der sein?“
    „Da rauf“, sagte Marcus und wies auf den Eckturm, der rechts von ihnen aufragte. „Durch das Turmfenster kann man sicherlich in die Festung gelangen. Ich sehe da jedenfalls keine verschlossene Tür.“
    „Gar nichts siehst du“, schalt Jordir ihn. „Und wie willst du denn bitte da heraufkommen?“
    „Mit meinen Händen, ich habe ja jetzt wieder zwei“, erwiderte Marcus.
    „Du willst klettern?“
    „Ist immer noch besser als zu warten.“
    „Warten ist immer noch besser als abzustürzen!“
    „Wir stürzen nicht ab, wir nehmen ja Seile.“
    „Und wo bei Beliar willst du die jetzt wieder hernehmen?“
    Marcus musste sich beinahe ein Schmunzeln verkneifen, als er sich zur Hängebrücke hinter ihnen wandte.
    „Wir können uns ja ein paar Seile dort herausschneiden und sie miteinander verknoten. Die sind ja nicht alle tragende Elemente. Hast ja selber vorgeführt, wie wenig es davon braucht, damit die Brücke hält.“
    Jordir öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Er schüttelte den Kopf.
    „Na gut. Dann versuchen wir das so. Aber wenn meine Sichel hinterher stumpf ist, dann besorgst du mir eine neue.“
    Geändert von John Irenicus (13.01.2024 um 11:23 Uhr)

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    Alia saß direkt im Zentrum des Sonnenkreises auf der Steinplatte unter dem Portal und betrachtete den Runenstein in ihrer Hand, den der Magier beim Sphärenübertritt fallengelassen hatte. Es war gerade mal ein paar Augenblicke her, dass die drei Männer in einem weißen Lichtblitz vom Morgrad verschwunden waren, und bereits jetzt beschlich Alia das ungute Gefühl, dass es eine schlechte Entscheidung gewesen war, hier zurückzubleiben, selbst wenn sie nicht wirklich eine Wahl gehabt hatte.
    Alia legte den Runenstein neben sich auf die Steinplatte und machte sich daran, ihren linken Handschuh auszuziehen. Es wurde Zeit, ihrer Auftraggeberin Bericht zu erstatten. Mit ihrer nun freien Hand rieb sie über den Aquamarinring an ihrer rechten Hand, schloss die Augen und fokussierte ihre Gedanken auf die Empfängerin ihrer Nachricht. Kurze Zeit später begann ihr Ring sanft zu vibrieren. Als sie die Augen wieder öffnete, zeigte sich in den geschliffenen Facetten des Aquamarins ein Gesicht. Alia sah, dass ihre Gesprächspartnerin gerade keine Maske trug und hielt sich davon ab, die kleine Abbildung auf dem nun leuchtenden Ring genauer zu studieren. Katharina hatte einen Grund, ihr Gesicht nie offen zu zeigen. Die Verbrennungen, die sie damals im Kampf mit den Jüngern Innos’ erlitten hatte, mussten wirklich furchtbar gewesen sein.
    „Alia“, ertönte die Stimme Katharinas auf magische Weise aus dem Ring. „Läuft alles nach Plan?“
    „Nicht ganz“, antwortete Alia und fuhr dann damit fort, die Geschehnisse der vergangenen Stunde zusammenzufassen. Katharina hörte sich alles ganz ruhig an und schwieg. Es war diese ruhige, kontrollierte Art, die Katharina binnen kürzester Zeit in eine Führungsposition des Rings des Wassers hatte rücken lassen. Ihre Fähigkeiten und vor allem ihr Wissen um die Jünger Innos’ waren für den Ring von unschätzbarem Wert. Mit Katharinas Hilfe und unter ihrer Weisung hatten sie nach und nach fast sämtliche Zellen der verstreuten Sekte unschädlich machen können. Bis auf den harten Kern rund um Pater Lahache. Er war der letzte, der noch übrig war. Bis vor kurzem war Katharina die einzige Person aus dem Ring gewesen, die Lahache je persönlich gegenübergestanden hatte. Sie war hier auf Khorinis, ihrer Heimat, gewesen, als die Jünger Innos’ die Hafenstadt übernommen hatten, und sie hatte maßgeblichen Anteil daran, dass die Herrschaft der Fanatiker gebrochen werden konnte. Der Preis, den sie dafür hatte zahlen müssen, war so hoch gewesen, dass sie kurz darauf die Insel verlassen hatte und zum myrtanischen Festland gereist war. Dort hatte sie sich dem Ring angeschlossen. Seither hatte sie keinen Fuß mehr auf diese Insel gesetzt. Die Erinnerungen, so vermutete Alia, mussten sie noch immer schmerzen.
    Als Alia mit ihrer Erzählung geendet hatte, schwieg Katharina noch eine ganze Weile, bis sie eine einzige Frage stellte.
    „Der Einarmige hieß Marcus, stimmt’s?“
    „Ich glaube ja. Er und der Große haben durchklingen lassen, dass sie eine persönliche Geschichte mit Lahache verbindet und -“
    „Ich weiß“, unterbrach Katharina. „Beide waren damals dabei.“
    Alia nickte. Das hatte sie sich schon gedacht. Sie konnte nur mutmaßen, was Katharina dazu gebracht hatte, ihre Weggefährten zu verlassen und die Bande zu ihnen zu kappen. Offenbar konnte manche Dinge selbst einen so gefestigten Menschen wie Katharina manchmal ins Wanken bringen. Es war das eine, gegen seinen Feind zu kämpfen. Aber etwas völlig anderes war es, von seinem Feind zum Kampf gegen die eigenen Freunde instrumentalisiert zu werden. Katharina war in den vielen Besprechungen nie müde geworden, eindringlich vor den Kontrollzaubern des Paters zu warnen. Alia trug deshalb stets eine kleine Kapsel bei sich. Sie hatte sich geschworen, bei den kleinsten Anzeichen, dass Lahache und seine Lakaien in ihrem Verstand zu wühlen begannen, diese Kapsel zu zerbeißen, und dann würden sie gar nichts mehr von ihr bekommen.
    „Den Runenstein dieses Magiers hast du noch?“
    „Ja“, sagte Alia und blickte auf den dunklen Stein neben sich. Sie hatte bereits versucht, ihn zu aktivieren, aber ihre eigene magische Ausbildung war nicht weit genug gediehen, um seine Kräfte zu nutzen.
    „Gut. Ich werde nach Khorinis reisen. Halte solange die Stellung.“
    „Was? Wieso? Wird das nicht viel zu lange dauern?“
    „Besser spät als nie. Ich beeile mich. Wir treffen uns am Sonnenkreis.“
    Das Leuchten des Aquamarinrings erlosch und Katharinas Antlitz verschwand von der Oberfläche. Alia blickte in ihr eigenes, durch die vielen Facetten gespiegeltes Gesicht auf dem Ring und ertappte sich bei einem sorgenvollen Stirnrunzeln. Katharina hatte immer gesagt, dass sie möglichst nie wieder zurück nach Khorinis wollte.

    ~


    Jordir hatte Mühe, mit seinen großen Füßen auf den schmalen Vorsprüngen, Erkern und Zinnen der Festung zu balancieren. Noch mehr Sorgen als ein plötzlicher Fehltritt seinerseits machte ihm aber Marcus, der bereits kurz nach Beginn ihrer Kletteraktion zu schwitzen begonnen hatte wie ein Wasserfall; und mittlerweile pfiff er beim Atmen wie ein menschlicher Teekessel. Sein Gefährte war ein Stück hinter ihm, die Hände verkrampft um eines der beiden langen Seile geschlungen, die sie aus Versatzstücken der Hängebrücke, die nun weit unter ihnen über dem Flammenmeer lag, zusammengeknotet hatten. Das andere Seil hielt Jordir, und beide Taue waren hinter Mauerzinnen verkantet und gaben den Kletterern so – hoffentlich – genug Halt. Während der Kletterpartie hatten sie die Seile, an deren fernen Enden Jordir einen steinernen Mörser sowie seine geliebte Sichel befestigt hatte, mehrfach neu auswerfen müssen, um die Festungswand nach und nach langsam aber unsicher erklimmen zu können. Sie hatten dabei nicht den direkten, steilen Weg nach oben antreten können, sondern mussten einige schwierige Umwege gehen, aber jetzt war das Turmfenster fast schon in Wurfweite. Jordir hatte jetzt nur noch Sorge, seinen Wackelkandidaten hier bis ganz nach oben zu bringen.
    „Marcus, wie sieht’s aus?“, rief Jordir über die Schulter, als er festen Stand auf einem Mauervorsprung gefunden hatte. „Kannst du noch?“
    „Ja“, hauchte es aus einem Meter Entfernung heran, aber als Jordir sich umdrehte, sah er einen Mann, dem sich die Erschöpfung förmlich ins Gesicht gegraben hatte. Im schimmerigen Licht des einfarbigen Himmels war Marcus’ Gesicht nichtmal mehr wie zu Beginn der Kletteraktion rot, sondern fast braun, seine Arme unter den hochgekrempelten Hemdsärmeln waren verkrampft und steif wie Bretter, sein Blick war starr und leer wie ein Tunnel. „Bin das nur nicht mehr so gewohnt … mit meinem rechten Arm, meine ich“, fügte er noch hinzu, als er Jordirs sorgenvolle Miene aufnahm.
    „Liegt glaube ich nicht nur am Arm, oder?“ Jordir ließ Marcus herankommen und machte ihm Platz auf dem kleinen Vorsprung. „Der Verband an deinem Kopf hat sich übrigens abgelöst, aber das nur am Rande.“
    Marcus war anzusehen, dass er am liebsten danach getastet hätte, aber er traute sich offenbar nicht, eine Hand vom Seil zu nehmen. „Ja“, hauchte er. „Ist auch ganz schön am Pochen, die Wunde. Tut jetzt wieder richtig weh. Hätte ich gar nicht gedacht. Macht wohl die Luft hier.“
    Jordir nickte besorgt. Marcus wirkte im Augenblick so, als sei er gar nicht richtig da.
    „Sollen wir hier auf dem Vorsprung eine Pause machen?“
    „Weiß nicht. Vielleicht lieber nicht“, sagte Marcus und hatte den Vorsprung nun endlich erreicht, um für einen kurzen Moment festen Boden unter den Füßen zu haben. „Wenn ich jetzt Pause mache, wird es vielleicht nur noch schwerer, wieder anzusetzen“, erklärte er. „Lass es uns jetzt durchziehen. Noch ein letztes Mal Schwung holen und so.“
    „Dass du mir hier aber keinen Abflug machst“, mahnte Jordir. Er selbst hatte die Anstrengungen des Kletterns auch deutlich gespürt, aber im Gegensatz zu Marcus war er ja geradezu das blühende Leben. Mit ein, zwei Rucken löste er die Seile aus ihrer bisherigen Verankerung an einer Mauerzinne ganz in der Nähe von ihnen. Sie beide waren jetzt in etwa auf Höhe der Mauer, wenn auch weiterhin an der Außenfassade der Festung. Von den eingeholten Seilen besah sich Jordir vor allem sein eigenes, genauer gesagt die Sichel am anderen Ende, mit besonderer Sorge. Ein, zwei Scharten hatte sie bereits abbekommen. Jetzt gab es eh kein Zurück mehr. Die Krone des Eckturms der Festung war nicht mehr weit weg, und in der Tat war das Turmfenster unvergittert und groß genug, dass ein ausgewachsener Mann sich hindurchzwängen konnte, auch wenn es für Jordir ziemlich eng werden würde. Nach einigen Würfen, die dem Steinmörser am anderen Seil ein abgeplatzes Stück und der Sichel mindestens eine weitere Scharte kosteten, hatte Jordir es geschafft, die Seile am linken und am rechten Eck des Fensters zu verkanten. Sicherheit war etwas anderes, aber da die Mauer rechts von ihnen nicht weit weg war, konnte man im Notfall eine der Zinnen umklammern, um sich noch halten zu können. Jordir erwog kurzzeitig, die Mauer einfach zu besteigen und entlang zu gehen, aber dann hätten sie, wenn sie nicht einen anderen Eingang in die Feste gefunden hätten, kurz vor dem Turm wieder ein wenig herabsteigen müssen, um um den Turm herum zum Fenster zu gelangen, und das schien ihm noch deutlich gefährlicher zu sein, als den einmal gewählten Pfad zu Ende zu gehen. Jordir prüfte noch einmal die Festigkeit der beiden Seilverankerungen und wandte sich dann Marcus zu.
    „Sicher, dass du weitergehen kannst?“
    „Na … klar.“ Marcus musste sich räuspern. „Klar. Und sobald wir im Turm sind, machen wir eine kurze Rast, und dann machst du mir vielleicht nochmal so einen Schmerztrank.“
    „Ja, auf jeden Fall“, log Jordir, der weder die nötigen Gerätschaften noch die nötigen Grundstoffe für so einen Trank dabei hatte. Als er seinen Rucksack gepackt hatte, hatte er schließlich nur eine halbtägige Reise einmal zum Sonnenkreis und zurück im Sinn gehabt. Und jetzt hingen er und Marcus in einer fremden Dimension an der Fassade einer riesigen Festung, die Innos sich zu Ehren seiner selbst errichtet hatte. Diese Planänderung war wirklich zu kurzfristig gewesen, um noch eine Reiseapotheke einzupacken. Aus den Ingredienzien für den Feuerwurzeltrank ließ sich aber vielleicht noch irgendetwas zaubern.
    „Geh du vor“, wies Jordir Marcus an. „Einfach geradewegs auf das Fenster zu. Ich bleibe dicht hinter dir. Falls was wackelt, fange ich dich auf. Sei vorsichtig, wenn die Mauer endet.“
    „Alles klar“, sagte Marcus. Als er mit seinen verkrampften, zitterigen Fingern das Seil ergriff, wollte Jordir ihn aus Furcht direkt schon wieder zurückpfeifen, aber er verzichtete darauf, seinen Gefährten noch unruhiger zu machen. Und er hatte ja Recht: Einfach hier bleiben konnten sie ja auch nicht.
    In kleinen Trippelschritten, an der Fassade längs und unter Zuhilfenahme diverser Vorsprünge dieser Festung, die mit all ihren Erkern wie von einem Dornenmantel umhüllt aussah, arbeiteten sie sich zum Turmfenster vor. Jordir war dabei so sehr damit beschäftigt, auf Marcus zu achten, dass er an einer Stelle beinahe selbst abrutschte, aber er fing sich gerade noch. Als sie sich dann direkt unterhalb des Turmfensters am grauen Mauerwerk hochziehen mussten, musste Jordir sogar eine Hand vom Seil lösen, um Marcus zu stützen, anzuschieben, zu schubsen, und unter einigem Gewurschtel gelang es Marcus schließlich, sich durch das Turmfenster hindurchzuschieben. Jordir folgte ihm und hatte allein aufgrund seiner Körpergröße einige Probleme, hindurchzukommen, schaffte es dann aber auch irgendwie. In diesem Moment war Jordir nicht nur froh, dass sie es beide unfallfrei geschafft hatten, sondern auch, dass niemand dagewesen war, um ihnen dabei zuzuschauen. Eleganz war etwas anderes, aber nach dem Wie würde hinterher keiner mehr fragen.
    Als Jordir sich in den Turm fallen ließ, traf er auf einen dunklen, kühlen Steinboden. Das Innere des Turmzimmers war alles andere als groß; mit zweieinhalb großen Schritten hätte Jordir von einer Wand zur anderen gelangen können. Links führte eine Holztür mit Eisenbeschlägen aus dem Turm hinaus. Rechts von ihm zog sich der erschöpfte Marcus gerade mit letzter Kraft zur Wand und schaffte es, sich aufzusetzen. Sein Hemd war völlig durchnässt, seine Brust bebte vor schwerem Atem.
    „So schlimm?“, fragte Jordir besorgt.
    Marcus nickte. „Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment explodieren. Und ich kann mich echt kaum noch bewegen.“
    „Sport ist Mord“, kommentierte Jordir eher hilflos. So wie jetzt hatte er Marcus noch nie gesehen. Dabei hatte er ihn schon in ganz anderen Lebenslagen wieder zusammengeflickt.
    „Es ist nicht nur das Körperliche“, japste Marcus. „Mir ist auch so … ganz komisch. Irgendwie so seltsam … als würde ich langsam abdriften.“
    Jordir trat einen Schritt an Marcus heran und beugte sich zu ihm herunter, um den Puls an seinem Hals zu fühlen. Sein Herz hämmerte viel zu schnell, so als wollte es aus seinem Körper ausbrechen. Und seine Haut … sie war trocken wie eine Baumrinde und sah im fahlen Licht fast gelb oder braun aus. Die Kruste auf der Wunde an seiner Schläfe war auffällig dick geworden, wie eine versteinerte Flechte saß sie an seinem Kopf. Als Jordir Marcus’ zitterige Finger ergriff, waren sie ganz kalt und hart und kaum noch beweglich.
    „Kann sein, dass du dehydriert bist“, sagte Jordir auf Marcus’ schockgeweiteten Blick und setzte seinen Rucksack ab. „Das kriegen wir bestimmt wieder geregelt“, sagte er, und redete dabei mindestens ebenso viel sich selbst wie Marcus zu. „Ein paar Sachen habe ich ja dabei …“
    Jordir kramte in seinem Rucksack herum. Violette Feuerwurzeln hatten sie ja letztlich doch nicht gepflückt, aber aus dem Grundstoff, den er mit dabei hatte, ließ sich sicherlich irgendetwas herstellen, an das Marcus sich klammern konnte. Jordir erschrak kurz, als sein Griff in einer der Rucksacktaschen ins Leere ging. Dann fiel ihm wieder ein, dass seine Sichel ja noch immer, ebenso wie der Steinmörser, ans Ende der Seile geknotet war, die aus dem Turmfenster heraushingen. Gerade, als Jordir seinen Blick auf die Seile geworfen hatte, hörte er hinter sich ein gewaltiges Knirschen und spürte eine Bewegung. Instinktiv warf er sich auf den Boden; er landete unsanft auf seinem Rucksack und tauchte gerade noch unter einem Schlag hinweg, der gemessen am zugehörigen Luftzug mit ungeahnter Wucht ausgeführt worden sein musste. So schnell er konnte, wandte er sich um. Marcus kniete vor ihm, die Augen starr vor Schreck auf seine ausgestreckte rechte Hand gerichtet, die so fest zur Faust geballt war, dass die Finger geradezu miteinander verwachsen schienen. Sie waren nun gelblich-braun, und die Farbe breitete sich über Marcus’ Arme aus wie eine schnell fortschreitende Infektion. Dabei knirschte und rumpelte es wie bei einem Steinschlag. Marcus wollte sich mit der anderen Hand an den Hals fassen, der ganz steif und unbeweglich war, aber er hatte ganz offensichtlich kaum noch Kontrolle über seinen Körper und konnte nur noch unartikulierte Laute von sich geben. In der nächsten Sekunde schien sein Kopf anzuschwellen, dann aber erkannte Jordir, dass aus Marcus’ Kopf eine Art Steinkranz wuchs, der die Form einer Sonne annahm. Als sich dann auf Marcus’ gesamter Haut und in seinem Gesicht ein steinernes Relief ausprägte, bekam Jordir eine Ahnung, was hier gerade passierte. Marcus riss den Mund vor Schreck auf, während sein Gesicht immer weiter von steinernen Ornamenten bewuchert wurde und die Felsenkrone auf seinem Kopf wuchs und wuchs. Seine Arme waren nun ganz aus gelbbraunem Stein. Bis auf eine kleine Partie rund um die Augen und den Mund zeigte Marcus nun das Antlitz des Steinwächters, der ihn am Steinkreis im Wald attackiert hatte. Jordir konnte sich nicht genau erklären, was genau diese Verwandlung ausgelöst hatte, ob der Steinwächter Marcus mit irgendetwas infiziert hatte oder ob die Magie in dieser Sphäre schlicht verrückt spielte, aber das war gerade alles nicht so wichtig. Viel wichtiger war: Jordir musste etwas tun, um diese Verwandlung aufzuhalten, sie irgendwie rückgängig zu machen. Nur was?
    Jordir hatte keine Zeit zu überlegen, denn das Steinmonster, in das Marcus sich verwandelt hatte, holte bereits zum nächsten Schlag aus. Da es im beengten Turmzimmer kaum noch Möglichkeiten für Jordir gab, auszuweichen, entschied er sich im Bruchteil einer Sekunde dafür, seinen Rucksack hochzureißen und damit den Schlag irgendwie abzufangen. Es gelang halbwegs, er selbst wurde nicht direkt getroffen, wurde aber von der Wucht des Schlags zu Boden gerissen. Der Rucksack prallte hinter ihm auf, ein Klirren verriet ihm, dass die einst für den Feuerwurzeltrank vorbereitete Phiole zerbrochen war. Zeitgleich hörte er aber auch ein blechernes Scheppern, und als er vor dem Steinwächter, der kaum noch Ähnlichkeit mit Marcus aufwies, auf allen Vieren zurückwich, ertastete er den Gegenstand, der dieses Geräusch verursacht hatte. Es war die goldene Maske mit dem Frauenantlitz, die er aus seinem versteckten Keller mitgenommen hatte und mit der die Jünger Innos’ einst Katharina unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Jordir zögerte nur einen kleinen Moment lang, aber dann probierte er die Idee einfach aus, die ihm gerade in den Sinn kam. Vielleicht würde er Marcus so irgendwie irritieren, ihn irgendwie zurückholen können. Er ergriff die Maske und hielt sie mit ausgestreckten Händen von sich, in der verzweifelten Hoffnung, Marcus' Verwandlung durch geweckte Erinnerungen, Überraschungen und einen Schuss zufälliger Magie stoppen zu können. Tatsächlich hielt der Steinwächter, der Marcus' Hemd nunmehr in Fetzen an sich trug, kurz inne – nur um dann zu einem erneuten, wütenden Schlag auszuholen. Jordir wich dem Schlag aus, indem er einen halben Satz nach hinten machte – und stand sodann im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zur Wand. Mit schweren, stampfenden Schritten kam Marcus auf ihn zu, sein Gesicht nun fast vollständig aus Stein; lediglich die Nase, der Mund und die Augen ließen noch erahnen, dass hinter dem steinernen Antlitz mal ein Mensch gesteckt hatte. Jordir hielt immer noch die Maske weit von sich gestreckt, jetzt in Panik, er rief Marcus' Namen, immer und immer wieder, aber es half nichts. Er wollte sich verteidigen, bemerkte aber, dass er seinen Kampfstab nicht mehr bei sich hatte, weil der beim Klettern heruntergefallen war. Jordir sah aber auch keine Chance mehr, noch auszuweichen, sah nur noch, wie der Steinwächter ausholte – und dann folgte er einer letzten Idee, die allenfalls von einem halben Fünkchen Hoffnung getragen war: Er machte einen Schritt nach vorne, drehte die goldene Maske in seinen Händen um und presste sie dann auf das halb menschliche, halb steinerne Gesicht. Die Maske hielt, irgendwie, saugte sich förmlich an Marcus' Kopf heran – und plötzlich kam der Steinwächter mitten in der Ausholbewegung zum Stehen.

    Marcus war nirgendwo und überall, aber nicht bei sich. Sein Geist flirrte durch den Raum, durch die Dimensionen gar, wurde von einer anderen Entität aus dem Körper gedrängt, der nicht mehr seiner war. Es war fast wie ein inneres Sterben, als die steinernen Ornamente seinen Körper durchwucherten und begannen, seinen Verstand zu erdrücken. Die stummen Schreie, die Marcus ausstoßen wollte, kamen nirgendwo an. Zwischen weißen Blitzen und hastigen Lidschlägen tauchte das angsterfüllte Gesicht Jordirs auf. Dann war da eine Faust, die mal zu Marcus gehört hatte. Und dann ein Gesicht aus Gold. Marcus ahnte, dass ihm dieses Antlitz etwas sagen sollte, aber sein Verstand war bereits wie versteinert. Das goldene Gesicht rotierte in der Luft und kam dann mit einem Mal auf Marcus zu. Als es sein versteinertes Gesicht berührte, verschwand sein unruhiges Sichtfeld in einem weißen Glimmen, aus dem nach und nach dunkle, übermenschengroße Silhouetten hervortraten. Je mehr das Glimmen nachließ, desto mehr nahmen diese Schemen Konturen an. Nach einer Weile war das Bild, wenn auch noch vernebelt, vollständig, und Marcus fühlte mehr als dass er verstand, dass er hier den Sonnenkreis sah, und zwar nicht aus seinen Augen, sondern aus den Augen eines anderen. Eine zweite Entität hatte sein Inneres betreten und begann, mit dem Steingeist in ihm zu ringen.
    Marcus.
    Eine Stimme rief ihn an, sie war fern, aber doch vertraut.
    Marcus.
    „Katharina“, wollte Marcus sagen, aber seine Lippen waren so schwer und verschlossen, dass er sie nicht auseinanderbekam. „Rina!“, dachte er mit aller Macht, in der Hoffnung, Katharina würde ihn irgendwie hören können, aber seine Gedanken waren zerteilt und zersplittert unter dem ganzen Geröll, das die Magie des Steinwächters über ihn ausgeschüttet hatte.
    Marcus. Es ist wichtig, dass du dich gegen die uralte Magie zur Wehr setzt, die sich deiner bemächtigen will.
    „Aber wie? Wie soll ich das machen?“
    Stemm dich einfach dagegen, so gut du kannst. Den Rest mache ich. Die Magie trägt Züge eines Kontrollzaubers, genau so, wie ein mächtiger Kontrollzauber in der goldenen Maske steckt, die mir damals aufgesetzt wurde und die du jetzt trägst. Ich weiß nicht, wie du an sie gelangt bist, aber das gibt mir Gelegenheit, dir beizustehen. Meine Verbindung zu dieser Maske ist nie ganz abgerissen, und jetzt, wo du sie an dir trägst, ist diese Verbindung wieder erwacht. Halte durch, es wird jetzt ein wenig ungemütlich, wenn ich gleich den Steinzauber aus dir auszutreiben versuche.
    Im nächsten Augenblick fühlte Marcus sich, als hätte ihn ein wuchtiger Schlag direkt in die Magengrube getroffen. Ihm wurde speiübel, alles drehte sich, die Schemen des Sonnenkreises verschwammen und verwirbelten, bis er nur noch ein braunes Relief ganz nah vor Augen hatte, als hätte man ihm eine Steintafel auf die Stirn gelegt. Alles in ihm und um ihm herum wirbelte durcheinander, durchsetzt von immer wieder aufleuchtenden weißen Blitzen und Lichtern, die einen Brand in seinem Kopf zu entfachen schienen. Wieder wollte Marcus schreien, aber sein Mund war wie zugenäht. Er biss sich so fest auf die Zähne, dass er Angst hatte, sie würden jeden Augenblick bersten.
    Im nächsten Moment fühlte es sich so an, als würden tausende Fäden langsam aus seinem Körper herausgezogen werden. Marcus spürte richtig, wie sehr sich Katharina anstrengte, die fremde Kontrolle aus seinem Geist zu vertreiben, und er tat sein Bestes, sie dabei zu unterstützen. Die Versteinerung seines Verstandes löste sich, sein Gesicht befreite sich von den Krämpfen, seine Glieder begannen ihm wieder zu gehorchen. Mit einem letzten Ruck verließ der Kontrollzauber seinen Körper und in sein Sichtfeld trat wieder das weiße Glimmen. Marcus konnte bereits wieder genug denken, um sich zu fragen, ob Katharina dieses Glimmen damals auch gesehen hatte, als man ihr die Maske aufgesetzt hatte.
    Ich konnte den Steinzauber unschädlich machen. Du kannst die Maske jetzt wieder absetzen, aber behalte sie bei dir. Mit ihr kann ich euch finden. Haltet aus, wir kommen!
    Das weiße Glimmen erlosch. Marcus sah Dunkelheit vor sich und hörte Jordirs Stimme, die immer wieder seinen Namen sagte. Als er die Hand seines Gefährten auf seiner Schulter fühlte, begriff er, dass sein Körper wieder der alte war. Er nahm die Maske ab und sah erst in Jordirs besorgtes Gesicht, dann auf seinen rechten Arm, der ihm zum Glück geblieben war. Sein Hemd hing ihm größtenteils in Fetzen herunter, aber das war jetzt egal. Die Versteinerung war rückgängig gemacht worden, das Pochen seiner Wunde am Kopf hatte aufgehört. Die steinerne Kruste, die seine Schläfe überwuchert hatte, war fort.
    „Marcus, ist … bist du wieder … ?“, stammelte Jordir. Seine Miene hellte sich auf, als Marcus zu ihm sprach.
    „Das war ganz schön knapp, aber ich glaube, ich bin wieder der Alte. Ich … ich hatte Kontakt zu Rina. Sie hat durch die Maske zu mir gesprochen und war irgendwie … in meinem Kopf. Sie hat gegen den Steinwächter angekämpft und ihn dann irgendwie vertrieben.“
    „Dann steckt also doch noch Magie in dieser Maske“, zeigte Jordir sich fasziniert. „Ich hab's doch immer gewusst.“
    Marcus zog eine Augenbraue hoch. „Wie kommt es überhaupt, dass du diese Maske hast?“
    Jordir senkte den Blick. „Damals … als diese ganze Sache vorbei war … ich habe sie einfach aufgesammelt. Ich war fasziniert von dieser Magie, so schrecklich es auch war, was die Jünger mit ihr angerichtet haben. Ich wollte sie nie benutzen, nur erforschen! Und ich hatte so das Gefühl, dass Katharina selbst sie wohl ganz bestimmt nicht haben wollte. Und herumliegen lassen kann man so ein Ding ja wohl auch nicht, wer weiß denn, in wessen Hände die Maske dann geraten wäre.“
    Marcus zuckte mit den Schultern. „Ist ja jetzt auch nicht so wichtig. Gut, dass du sie dabei hattest. Rina hat mir gesagt, ich solle sie bei mir behalten, damit sie uns findet. Ich glaube, sie will durch das Sphärenportal schreiten.“
    „Sollen wir auf sie warten?“
    Marcus schüttelte den Kopf. „Davon hat sie nichts gesagt, und ich glaube, wir sollten keine Zeit verschwenden. Lass uns diesem Schweinepriester endlich den Garaus machen.“
    „Gut!“, sagte Jordir, der seinen Rucksack wieder zusammengerafft hatte und auch die Seile eingepackt hatte. „Die Frage ist jetzt nur: Wie kommen wir jetzt aus dem Turmzimmer heraus ins Innere der Festung?“ Er wies auf die eisenbeschlagene Holztür, die sie von den weiteren Räumlichkeiten der Festung trennte. Marcus, mit neu gewonnener Sicherheit auf seinen Beinen, schritt auf die Tür zu, drückte die Klinke aus geschwärztem Eisen herunter und zog einmal beherzt an ihr. Ohne das leiseste Knarren schwang sie auf.
    „Ungefähr so“, kommentierte Marcus und wies mit der Hand, in der er noch immer die goldene Maske festhielt, durch die offene Tür hinein in den Abstieg einer mit Fackeln behangenen, steinernen Wendeltreppe. „Nach dir.“
    „Du bist und bleibst ein echter Teufelskerl, Marcus“, sagte Jordir und trat – mit leicht eingezogenem Kopf – durch die Tür hindurch. Marcus folgte ihm schweigend. Seine Gedanken kreisten um Katharina. Hoffentlich würde er diesmal verhindern können, dass ihr ein weiteres Unglück geschah beim Versuch, ihm zu helfen.
    Geändert von John Irenicus (13.01.2024 um 11:37 Uhr) Grund: Zeichensetzung korrigiert

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    Marcus hatte irgendwann aufgehört, seine Schritte zu zählen, aber es mussten mehrere hundert Stufen gewesen sein, die er und Jordir die Wendeltreppe hinabgestiegen waren, bis sie durch einen steinernen Torbogen hindurch traten, der sie in eine große, weite Halle führte. Von innen wirkte die Flammenfeste fast noch gewaltiger als von außen. Die Mauern waren dick und der Stein fast unbearbeitet, als hätte eine Riesenhand ganze Bergmassive zurechtgebrochen, um sie zu Pfeilern der Festung zu machen. Gleiches galt für die Säulen, die, ebenfalls aus dunklem Stein, in großer Zahl über die Halle verstreut waren und ein Muster bildeten, das zu kompliziert war, als dass menschliche Augen eine Symmetrie darin hätten erblicken können. Beim Versuch, den Säulen bis hin zur hohen Decke der Halle zu folgen, verschwamm Marcus’ Blickfeld. Am faszinierendsten war aber der Boden, auf dem er und Jordir nun wandelten. Er war dunkel und matt, aber zugleich spiegelglatt. Jordir äußerte die Vermutung, dass es sich hierbei nur um Vulkanglas handeln konnte, vergleichbar mit Obsidian, aber mit einer Textur und vor allem in einer Menge, die in ihrer Heimatsphäre ihresgleichen suchen würde. Und obwohl die Halle zum größten Teil aus dunkelsten Materialien gebaut war, war es in ihr taghell. Ein subtiles, weißes Glimmen lag wie Morgentau auf dem Mauerwerk, den Säulen und dem Boden der Halle.
    Marcus und Jordir hatten die Halle von der Seite betreten; zu ihrer Linken befand sich das große Eingangstor aus Holz, das so dunkel war, als sei es im Feuer dieser Sphäre verbrannt worden.
    „Für den Fall der Fälle …“, raunte Jordir, schritt auf das Tor zu und versuchte dann, dessen beiden Flügel von innen aufzustemmen. Sie rührten sich keinen Millimeter. Marcus wollte erst zu Hilfe kommen, bemerkte dann aber rechts neben der Tür einen in etwa hüfthohen Sockel, der eine durchsichtige Glaskugel trug.
    „Was ist denn damit?“, fragte er und deutete auf die Kugel. Jordir ließ von dem Tor ab und begab sich zum Sockel. Nach einigem interessierten Hindurchschauen legte er erst eine, dann beide seiner Hände um die Kugel. Nichts geschah.
    „Probier du mal“, sagte er und machte einen Schritt zur Seite. Marcus trat an den Sockel heran und legte seine linke Hand auf die Glaskugel. Sie war glatt und warm. Nichts passierte.
    „Versuch mal die andere.“
    Marcus steckte sich die goldene Maske, die er die ganze Zeit mit sich geführt hatte, in den Hosenbund und fasste nun mit der rechten Hand auf die Glaskugel. Mit einem Mal schien das Glas heiß wie ein Ofenrohr zu sein, aber Marcus widerstand dem Impuls, seine Hand sofort wieder wegzuziehen. Einen Augenblick später färbte sich die Glaskugel rot. Unter lautem Dröhnen und Knarren schwangen die beiden Torflügel langsam nach innen auf, wie von Geisterhand an einem unsichtbaren Seil gezogen.
    Jordir sah Marcus zufrieden an. „Habe ich es mir doch gedacht. Dein rechter Arm ist pure Magie. Schade, dass ich meine Runen nicht mitgebracht habe …“
    „Einen Beliar hätte ich getan, mit Zauberrunen herumzuhantieren“, kommentierte Marcus. Er warf einen Blick nach draußen, wo Lava und Magma unter dem feuerroten Himmel weiterhin unablässig durch das Flammenmeer walzten. Das unterschwellige Rauschen drang nun auch in die Halle ein und fand im gläsernen Boden in Form leichter Vibrationen seinen Widerhall.
    „Lass uns gehen“, sagte Marcus und wies ans andere Ende der Halle zwischen einen von mehreren Säulengängen hindurch. „Ich habe das starke Gefühl, dass dieser Tränenschrein weiter in die Festung hinein liegt.“
    Es dauerte eine ganze Weile, bis Marcus und Jordir überhaupt die Mitte der Halle erreicht hatten. Von dort konnten sie aber immerhin sehen, dass am anderen Ende zwei weiße Statuen ein weiteres Tor säumten, welches aber deutlich kleiner als das Eingangstor war und zudem aus Stein zu sein schien. Je näher sie dem Tor und den Statuen kamen, desto mehr Details wurden sichtbar. Die Statuen standen auf Sockeln in Quaderform und stellten zwei gleich aussehende Männer in wallenden Gewändern dar, die ihre mit Kapuzen versehenen Häupter gesenkt hielten und auf je eine Glaskugel in ihren Händen schauten. Die Kugeln glichen in Form und Aussehen exakt derjenigen vom Eingangstor. Das Tor, welches durch die Statuen wie von Wachtposten flankiert wurde, war tatsächlich nicht aus Stein, sondern aus einem dunklen Metall, wie eine starke Feuerschutztür. Sie hatte weder Klinke noch Griff, und als Jordir gegen sie drückte, bewegte sie sich erwartungsgemäß keinen Millimeter.
    „Gleiches Spiel wie gerade, oder?“, fragte Marcus und ging auf die rechte der beiden Statuen zu. Als er seine rechte Hand auf die Glaskugel legte, fühlte er wieder Hitze seinen Arm hinaufsteigen. Die Kugel verfärbte sich rot. Marcus ließ von ihr ab, um die paar Schritte zur anderen Statue herüberzugehen, und legte auch dort seine Hand auf die Glaskugel. Sie wurde ebenfalls heiß und verfärbte sich rot. Die Tür aber blieb zu.
    „Die andere Kugel ist direkt kalt geworden, als du sie losgelassen hast“, erklärte Jordir. „Das war an der Eingangstür nicht so. Wahrscheinlich muss man sie beide gleichzeitig aktivieren. Komm, du nimmst die rechte und ich die linke.“
    Marcus und Jordir stellten sich vor den Statuen auf und berührten gleichzeitig die jeweilige Glaskugel vor sich. Während sich Marcus’ Glaskugel wieder verfärbte, blieb Jordirs Kugel weiß.
    „Ich hab’s befürchtet“, sagte er hörbar enttäuscht. „Mein magisches Potential reicht einfach nicht aus. Oder aber du bist der Auserwählte oder irgendwie sowas, keine Ahnung.“
    „Probier’s doch mal damit.“ Marcus zog mit der linken Hand die goldene Maske aus seinem Hosenbund hervor. „Soweit ich das verstanden habe, ist das Ding ja noch voller Magie.“
    Jordir nahm die Maske an und presste sie mit der Innenseite voran auf die Glaskugel. Tatsächlich färbte sich die Kugel langsam, aber sicher rot. Als sie vollkommen eingefärbt war, wurde die Metalltür an der Wand zwischen den Statuen geräuschlos nach oben gezogen und gab eine Passage in den nächsten Raum frei. Jordir nickte anerkennend und gab die Maske wieder an Marcus, der sie zurück in seinen Hosenbund steckte.
    „Jetzt kannst du aber wirklich nicht mehr meckern, dass ich die Maske damals aufgelesen habe.“
    „Nein“, stimmte Marcus zu. „Ich frage mich nur, wie Lahache es geschafft hat, die beiden Kugeln gleichzeitig zu aktivieren, wenn man dafür offensichtlich zwei Personen braucht.“
    „Vielleicht hat er sich dafür ja zweigeteilt, dem Kerl ist ja alles zuzutrauen. Gevierteilt wäre er mir ja noch lieber.“
    „Lässt sich einrichten“, sagte Marcus grimmig, spürte aber innerlich die Angst in sich hinauf kriechen. Bei genauerer Betrachtung war das, was sie hier taten, der reinste Wahnsinn. Jordir war mittlerweile völlig unbewaffnet, und Marcus hatte lediglich das Messer, das Alia ihm überreicht hatte. Wenn sie damit dem Pater den Garaus machen wollten, musste es schon sehr günstig laufen. Aber letztlich blieb ihnen nichts anderes übrig als es einfach zu versuchen.
    Der steinerne Gang hinter der Tür war schmal, war an den Wänden mit schlichten Fackeln beleuchtet und mündete nach kurzer Zeit in einen Raum, der sich von einer Empore aus von zwei geschwungenen, weißen, freistehenden Treppen links und rechts weiter hinab erstreckte. Die Balustrade mit dem weißen Säulengeländer bot einen guten Überblick über die Kammer. Am anderen Ende des Raumes ragte vom Boden bis zur Decke eine riesige Statue, die aussah wie eine um ein Vielfaches größere Version eines typischen Wegschreins, der Innos gewidmet war: Eine große, humanoide Figur in einem wallenden Umhang oder Rock hielt den Griff eines riesigen Schwertes fest in beide Hände gefasst und schien sich darauf zu stützen. Das vage männlich aussehende Gesicht war von einem Kriegshelm umrandet. Im Gegensatz zu den Wegschreinen war die Statue aber nicht aus sonnengelbem Fels gearbeitet, sondern war so dunkel wie der restliche Stein in dieser Festung. Die Statue war ebenso wie der gesamte restliche Raum von dem weißen Glimmen überzogen, das auch in der Haupthalle der Festung unterschwellig präsent war. Vor der Statue kniete, ihnen den Rücken zugewandt, eine Gestalt in roter Robe. Bei ihrem Anblick lief ein kalter Schauer über Marcus’ Rücken. Er musste die Gestalt nicht einmal genau betrachten, um zu wissen, um zu fühlen, dass es sich bei ihr um Pater Lahache handelte. Gleichzeitig spürte Marcus seinen in all den Jahren vergrabenen Zorn auf diesen Mann wieder aufsteigen. Wie von selbst fuhr seine Hand an den Griff des Messers an seiner Seite. Vielleicht war es doch nur folgerichtig, dass er sich darum kümmern würde, die Machenschaften dieses Paters ein für alle Mal zu beenden. Doch dazu mussten er und Jordir jetzt vorsichtig vorgehen. Er nickte Jordir zu, der offenbar gerade einen ähnlichen Gedanken gehabt hatte, und dann teilten sie sich auf. Jordir nahm die linke Treppe von der Empore herunter, Marcus die rechte. Fast synchron bahnten sie sich mit leisen Schritten ihren Weg nach unten. Marcus fixierte mit seinem Blick den Pater, der tief in seine Meditation versunken schien und sie offenbar nicht kommen sah. Marcus’ Griff um das Messer an seiner Seite wurde fester. Als er in etwa auf der Mitte der Treppe angekommen war, erschrak er, denn direkt an der Mauer, auf der die Empore gestützt war, schien eine Gestalt zu stehen. Auf den zweiten Blick erkannte er, dass es bloß eine stehende Paladinrüstung ohne Träger war, an der ein übergroßes Schwert lehnte. Jordir auf der anderen Seite hatte das nun auch erkannt, und mit langsamen Schritten setzten sie ihren Weg fort und trafen sich unten in der Mitte unter der Empore. Unsicher tauschten sie Blicke aus. Es hatte alles den Anschein, als hätte Lahache sie noch immer nicht bemerkt, denn der Pater kniete weiterhin vor der großen Statue am anderen Ende des Raumes. Marcus wollte gerade flüsternd zu Jordir Kontakt aufnehmen, als urplötzlich ein Zischen ertönte und etwas durch die Luft flog. Es war ein Pfeil, der auf Lahache zuschoss, dann aber wenige Zentimeter, bevor er in den Rücken des Magiers eingedrungen wäre, in der Luft stehen blieb und eine Sekunde darauf klappernd zu Boden fiel.
    Marcus wandte sich um. Dort oben auf der Empore an dem schmalen Geländer erblickte er Alia, ihren Bogen gezückt, einen weiteren Pfeil aus dem Köcher bereits in Bereitschaft zu einem zweiten Schuss. Und neben ihr stand …
    „Rina!“
    Katharina, gekleidet in ein dunkelgraues, schlichtes Gewand und ihr Gesicht verhüllt mit einer schwarzen Stoffmaske, die lediglich einen Schlitz für ihre unverkennbare Augenpartie frei ließ, lief die Treppe herunter und ergriff instinktiv Marcus’ Hand. Marcus suchte gerade noch nach passenden Worten, als hinter seinem Rücken eine fremde, gleichwohl bekannte Stimme wie ein Donnerhall ertönte, dessen Echo von den Wänden der Schreinkammer zurückgeworfen wurde wie kalte, spitze Messer, die Marcus direkt bis ins Mark trafen.
    „Nun, nun, wenn das mal keine freudige Wiedervereinigung ist. Die Freude wird nur nicht besonders lange andauern, fürchte ich.“
    Pater Lahache, der während des gesamten Geschehens in seine Meditation versunken geblieben war, war nun aus seiner knieenden Pose aufgestanden und hatte sich zu seinen ungebetenen Gästen umgewandt. Seine Robe flatterte in einem leisen Wind, der kaum spürbar war, und seine Füße schienen den Boden unter ihm nur ganz leicht zu touchieren, wie, als sei er kurz vorm Schweben. Er stand vor der hinter ihm hoch aufragenden Statue des Schreins einige Meter von Marcus entfernt, und doch erkannte Marcus seine stechenden Augen sofort wieder. Selbst aus der Entfernung sah er dieses charakteristische Pulsieren der Halsschlagader dieses Mannes, dessen Bild sich tief in sein Gedächtnis eingegraben hatte. Es sah aus, als würde jeden Moment etwas an seinem Hals platzen und ein lebendiges Wesen zum Vorschein bringen, vielleicht eine Made, ein Insekt, einen kleinen Dämon oder sonst irgendetwas Unweltliches. Die Aura dieses Mannes war so stark, dass Marcus nicht wusste, ob er selber gerade schwitzte oder fröstelte. Aber er erinnerte die Worte Alias. Kein Magier, und sei er auch noch so mächtig, war unsterblich. Marcus’ Finger krampften sich um den Griff des Messers an seinem Gürtel.
    „Ihr mögt mir gefolgt sein“, sprach Lahache und blickte sie aus starren Augen an.
    „Ihr mögt mein Gebet unterbrochen haben.“
    Der Pater näherte sich mit weiten Schritten Marcus und Jordir, der sich soeben das riesige Schwert von der Paladinrüstung gegriffen hatte und es fest in beiden Händen vor sich hielt.
    „Aber ich habe Zeit. Zeit, die ihr nicht habt. Ich werde mich so lange in Kontemplation vertiefen, bis Innos mir die Macht der Ersten Flamme gewährt. Und dann wird ein Zeitalter anbrechen, in dem nur noch die Würdigen über die Welt und zwischen den Sphären wandeln werden. Mit der Macht der Ersten Flamme werde ich den Morgrad von den minderwertigen Schmeißfliegen säubern, die sich in Menschengestalt unter die Rasse der Erwählten gemischt haben. Aber das werdet ihr nicht mehr erleben. Denn ihr, ihr seid als erstes dran!“
    Lahache breitete seine Arme aus und spreizte seine Finger. Einen Augenblick später stiegen überall in der Schreinkammer in etwa mannsgroße, runde Flammensäulen aus dem Boden auf. Keine von ihnen berührte die Anwesenden, aber sie engten den Bewegungsspielraum erheblich ein, und allein die von ihnen ausgehende, unbändige Hitze war Gefahr genug.
    „Verteilt euch!“, rief Katharina ihnen von der Empore aus zu. In ihrer rechten Hand hielt sie einen dunkelblauen Runenstein. „Wenn ihr alle auf einem Fleck bleibt, fällt es ihm nur umso leichter, euch zu erwischen! Ich werde versuchen, seine Flammen zu löschen!“
    Katharina hob den Runenstein in die Höhe, und im selben Augenblick begannen nach und nach Geysire aus dem Boden der Kammer hervorzubrechen, welche die Flammensäulen nach und nach zum Erlöschen brachten. Aber die Säulen waren viele, und in dem Tempo, in dem Katharina die Geysire beschwor, würde es lange dauern, bis sie die Feuersbrunst unschädlich gemacht hatte. Marcus fühlte sich mit einem Mal geradezu lächerlich. Während sich Katharina in allen den Jahren offenbar auf die Konfrontation mit Lahache vorbereitet und dafür sogar Magie erlernt hatte, hatte Marcus selber nichts Besseres zu tun gehabt, als ein kaum profitables Lager am Hafen zu führen, welches ohnehin mitsamt dem gesamten Morgrad untergehen würde, wenn Lahache seine Pläne doch noch verwirklichen konnte.
    Plötzlich spürte Marcus einen Stoß gegen seine Schulter.
    „Marcus, komm!“, rief Jordir und wies auf eine Lücke, die sich in dem Flammenmeer aufgetan hatte. Mithilfe weiterer magischer Geysire tat sich nach und nach ein Pfad zu Lahache auf. Der Pater hatte soeben eine schwebende, goldene Scheibe beschworen, die ihn vor den Pfeilen, die Alia nun unablässig über das Chaos hinweg abschoss, schützte. Lahache war eine ganze Zeit lang mit dieser Abwehrmaßnahme beschäftigt, aber zwischendrin gelang es ihm, einen lodernden Feuerball auf Marcus und Jordir zu schleudern, die gerade noch auseinander springen konnten. Marcus verbrannte sich dabei an der Hand, weil er während der Ausweichbewegung versehentlich in eine Feuersäule gefasst hatte. Aber für Schmerzen war jetzt keine Zeit. Jordir war bereits losgesprintet und wich den Feuersäulen so gut es ging aus. Marcus beherzigte Katharinas Rat und suchte sich einen anderen Pfad, musste dabei aber ein um den anderen Umweg gehen, um nicht in die Feuersbrunst hinein zu geraten. Nicht selten wurde der Weg erst frei, kurz bevor er in eine Sackgasse geriet. Katharina tat ihr Bestes, um seinen Pfad zu leiten, und er konnte nur mutmaßen, wie viel Kraft ihr das abverlangte – magische Kraft, die sie gemäß den Gesetzen dieser Sphäre, welche Tedros kurz vor seinem Ableben erläutert hatte, niemals wiedererlangen würde. Oder galt das nicht für die Magie des Wassers? So oder so: Ihr Magievorrat musste immens sein.
    Für den Magievorrat Lahaches galt aber Gleiches: Seine Abwehrscheibe sirrte um ihn herum und fing ein um den anderen Pfeil ab, während Lahache die Angriffe mit Feuerbällen konterte, die er nun bevorzugt in die Empore schleuderte, was Alia und Katharina immer wieder zum Ausweichen zwang. Lange hielten die beiden das vermutlich nicht mehr durch.
    Jordir war bereits relativ weit zu Lahache vorgedrungen, sah sich nun aber einer besonders dichten Flammenwand ausgesetzt, deren Auflösung durch Katharina, die gerade unter einem weiteren Feuerball Lahaches hinweg gesprungen war, noch auf sich warten ließ. Während Jordir sich hilfesuchend umguckte, beschloss Marcus, einen großen Bogen zur rechten Seite des Raumes zu schlagen, wo die Feuersäulen relativ ausgedünnt waren. Vielleicht konnte er so hinter Lahache gelangen. Und wenn der Magier dann von Jordir und von Alias Pfeilen abgelenkt war …
    Ein Schrei Jordirs zog Marcus’ Aufmerksamkeit an. Der Hüne war von den magischen Funken eines Feuersturms erwischt worden, die von dem Flammengeschoss abgeplatzt waren, dessen Hauptbestandteil nun in der Empore einschlug und von Katharina nur durch eine beschworene Wasserfaust im letzten Moment unschädlich gemacht werden konnte. Jordir, der sich über den Boden gerollt hatte, stand bereits wieder, offenbar hatte es ihn entgegen dem ersten Anschein nicht allzu schlimm erwischt. Er wechselte allerdings den Pfad zwischen den Feuersäulen, was Marcus zuerst befürchten ließ, dass Jordir zu ihm kommen wollte. Dann drehte er aber doch noch ab. In dem kurzen Moment, in dem sich ihre Wege fast gekreuzt hatten, war Marcus jedoch eine Idee gekommen. Während Lahache gerade damit beschäftigt war, einen weiteren Feuersturm vorzubereiten und sein beschworener goldener Schutzschild weiterhin Pfeil um Pfeil abfing, zog Marcus die goldene Maske hervor, die er noch immer in seinem Hosenbund mit sich geführt hatte. Er nahm seinen Mut zusammen, griff ins Innere der Maske und führte seine so geschützte Hand durch eine der Feuersäulen neben ihm. Die Maske trennte das magische Feuer als wäre es Luft; weder sie noch Marcus’ Hand wurden dabei auch nur ansatzweise heiß. Dieser Schutz war genau das, was Jordir jetzt brauchte, während er sich Lahache frontal und in direkter Linie näherte. Marcus beobachtete genau, welchen Weg Jordir einige Schritte zu seiner Linken nahm und versuchte auf seinem eigenen Pfad auf gleiche Höhe aufzuschließen. Als er dann seinen Arm mit der Maske in der Hand hob, trafen sich ihre Blicke. Marcus ließ die Maske kurzerhand auf den Boden fallen und verpasste ihr einen Tritt. Über die Geräusche von Feuer, Pfeilen und Geschrei hinweg glitt sie quasi lautlos über den Boden und blieb einen halben Meter vor Jordir liegen. Der rettete sich gerade mit einem Hechtsprung vor den nächsten Ablegern des Feuersturms, den Lahache nun gezielt auf Alia auf der Empore abgefeuert hatte. Während Alia von einem Teil des magischen Geschosses erfasst wurde und so laut aufschrie, dass es Marcus in den Ohren klingelte, tauchte Jordir nach der goldenen Maske. Das riesige Schwert führte er nun allein mit der rechten Hand, in der linken hielt er die Maske vor sich und näherte sich Lahache, soweit es die magische Feuersbrunst zuließ. Drüben auf der Empore war Katharina zu Alia gelaufen, um sich um sie zu kümmern. Ihre Maske war dabei heruntergerutscht, ihren Runenstein hatte sie in der Eile offenbar fallen gelassen. Weitere Hilfe gegen die Feuersäulen war damit erst einmal nicht mehr zu erwarten. Jetzt musste es wirklich schnell gehen, bevor Lahache die Oberhand gewann und Katharina endgültig die Kräfte ausgingen. In dem magischen Flammeninferno begann Marcus’ Blut förmlich zu kochen, so unerträglich wurde die Hitze. Mit entschlossenen Schritten wagte er sich durch enge Lücken zwischen den Feuersäulen, riskierte dann und wann, in Brand zu geraten und klopfte immer wieder unter Schmerzen magische Flammen an seinem Hemd aus. Schweiß lief ihm von der Stirn. Augenbrauen oder sonstiges Barthaar, welche die Schweißtropfen hätten aufnehmen können, hatte Marcus längst nicht mehr, und auch Teile seiner Kopfhaut fühlten sich mittlerweile unrettbar verbrannt an.
    „Lahache!“, hörte Marcus Jordir plötzlich von links brüllen. Er hielt die goldene Maske in etwa fünf Metern Abstand in die Höhe, sodass Lahache sie gut sehen konnte. Das war zwar nicht Marcus’ Plan gewesen, aber wenn Jordir es schaffte, Lahache nur lange genug abzulenken, dann war das genauso gut.
    „Ich habe da etwas, was dir gehört!“
    Er fuchtelte mit der Maske herum wie ein übereifriger Schauspieler in einem Bauerntheater, aber tatsächlich erregte er kurzzeitig Lahaches Aufmerksamkeit. Der jedoch ließ sich auf gar kein Gespräch ein, sondern beschwor reflexhaft einen Feuerball, den er zu Jordir hin aussandte. Der Feuerball schoss auf Jordir zu, wo er von der Maske zweigeteilt wurde. Jordirs letzte Reste seiner Kurzhaarfrisur verbrannten, aber abgesehen davon schien er nicht weiter verletzt zu sein. Marcus erkannte, dass Lahache in diesem Moment der Überraschung die Deckung mit seinem beschworenen Schild nahezu gänzlich aufgegeben hatte, aber entweder waren Alia die Pfeile ausgegangen, oder aber sie war nachhaltig außer Gefecht gesetzt. Marcus musste diesen Moment jetzt nutzen, komme, was da wolle. Er sprintete durch eine viel zu kleine Lücke zwischen zwei Feuersäulen, Flammen leckten in seinem Nacken, in seinem Rücken und an seinen Armen wie spitze Messerklingen, die sich in seine Haut bohrten. Mit zusammengebissenen Zähnen schaffte er es fast bis zum Fuße der großen Schreinstatue zu gelangen, die vom Feuer völlig unversehrt geblieben war. Jetzt stand Marcus fast genau hinter Lahache und sprintete erneut los. Marcus konnte beim Rennen in einem schnellen Seitenblick erkennen, wie Jordir überraschend behände mit dem Schwert in seiner rechten Hand drohende Ausfallhiebe vollführte und sich so immer näher an Lahache heranwagte. Lahache schleuderte ihm einen weiteren Feuerball entgegen, unter dem Jordir nun lieber hinwegtauchte, statt die Maske in Ansatz zu bringen. „Marcus, jetzt!“, rief er, als er sich nach dem Hechtsprung wieder aufrappelte und frontal auf Lahache zurannte, der gerade von keiner Feuersäule mehr geschützt wurde. Marcus nahm nun ebenfalls den Sprint auf, doch Lahache hatte bereits reagiert und einen halben Meter hinter ihm in Windeseile eine dichte Flammenwand beschworen. Marcus war kurz davor, abzubremsen, biss dann aber die Zähne zusammen und erhöhte sein Tempo nochmal. Wenn er dem Treiben jetzt nicht bald ein Ende setzte, dann würden er und alle anderen sowieso den Flammentod sterben. Kurz bevor er die Flammenwand erreichte, erschien über ihm eine dunkle, grollende Wolke, aus der es sofort wie aus Sturzbächen zu regnen begann. Es war ein kleines magisches Gewitter, das die Flammen im Umkreis um Pater Lahache langsam zum Erlöschen brachte. In diesem Moment passierte Marcus die schrumpfende Flammenwand und wurde vom magischen Feuer zwar noch schmerzhaft gebissen, konnte aber weiterrennen. Alias Messer hatte er nun bereits gezogen, bereit, es dem Pater in den Rücken zu stoßen. Der wehrte gerade einen Schwertstreich des herangerückten Jordir mit der beschworenen Schutzscheibe ab und konterte mit einem hektisch ausgesandten Feuerball, der den wegspringenden Jordir am Bein erfasste und somit schmerzhaft zu Boden brachte. Marcus indessen hatte Lahache fast erreicht, konnte die Textur seiner Robe fast schon spüren, als er von einem heftigen Wind erfasst und ein paar Meter nach hinten geschleudert wurde und dabei das Messer verlor, das hinter ihm auf den Boden klirrte. Jetzt drehte sich Lahache zu ihm um, machte Schritt um Schritt auf ihn zu, ein manisches Grinsen in sein Gesicht gemeißelt, die Ader an seinem Hals pochend und pulsierend, ein Feuersturm in seiner rechten Hand aufwallend – und dann knallte es einmal ganz laut, als der Magier von einem Blitz getroffen wurde und schreiend zu Boden ging. Die magische Wolke über ihnen hatte sich im günstigsten Moment geteilt und einen magischen Blitzbolzen herabgesandt. Marcus musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Katharina ihre letzte Kraft aufgewendet haben musste, um das magische Gewitter auf Lahache hinabfahren zu lassen. Er rappelte sich, verbrannt, durchnässt und mit schmerzenden Knien, wieder hoch, klaubte das Messer mit der vergifteten Klinge wieder auf und unternahm einen neuen Anlauf. Lahache lag in nur ein paar Schritten Entfernung vor ihm, stöhnend vor Schmerzen, schafft es aber, noch aus dem Liegen einen Feuerball in Marcus’ Richtung auszusenden. Der übersprang diesen kurzerhand in einem auch für ihn selbst überraschenden Moment, kam kurz vor Lahache wieder auf, ließ sich dann im nächsten Augenblick direkt selbst zu Boden fallen – und rammte im Fall das Messer direkt in Lahaches Hals, mitten in seine pulsierende Halsschlagader. Marcus erwartete, dass sie nun platzen und schwarzen Eiter ausspucken würde oder dergleichen, aber stattdessen kam lediglich ein kleiner Blutschwall hervorgeschossen. Lahaches Augen waren starr und weit aufgerissen, sein Atem rasselte und seine Glieder zuckten. Marcus drehte das Messer noch einmal in der Wunde herum, um auch sichergehen zu können, dass das Gift in den Körper gelangte und dort seine tödliche Wirkung entfalten konnte.
    „Ich bin nicht … der Letzte“, hauchte Lahache über seine eigenen Todeskrämpfe hinweg. „Es werden andere … nach mir kommen.“ Dann erschlafften seine Glieder und er blieb reglos am Boden liegen.
    „Das war’s mit dir, du Pisser“, sagte Marcus. Ein unangenehmes Gefühl der Befriedigung loderte in ihm auf.
    „Schnell, zu mir!“, hörte er dann Katharina von der Empore rufen. Sie hatte bereits mit einem Runenstein ein Portal geöffnet und hielt nun die zusammengesackte Alia in ihren Armen. „In dieser Sphäre werde ich sie nicht mehr retten können, aber wenn wir es rechtzeitig zurück nach Hause schaffen …“
    Marcus und der mittlerweile humpelnde Jordir, beide verbrannt vom magischen Feuer, eilten zu den Treppenstufen und hasteten zur Empore hinauf, wo sie sich neben Katharina und Alia unter dem schwarz-lila pulsierenden Portal einreihten und an den Händen fassten. Marcus stand ganz außen, erhaschte aber noch einen Blick auf Katharinas Gesicht. Es war nahezu völlig unversehrt und sah fast wieder so aus wie damals vor vielen Jahren, als er Katharina kennengelernt hatte. Marcus verstand, dass der Grund der gleiche war, der ihm in dieser Sphäre seinen Arm wiedergebracht hatte. Marcus fragte sich, ob Katharina wusste, dass ihr Gesicht hier ein anderes war und dass es in ihrer Heimatsphäre wieder verbrannt und vernarbt sein würde. Vermutlich wusste sie es, wie sie wahrscheinlich auch noch viel mehr wusste als das. Katharina war längst nicht mehr die Gelegenheitsdiebin aus dem Hafenviertel.
    „Schließt die Augen und lasst auf keinen Fall los, wenn wir das Portal durchschreiten!“, mahnte Katharina. Marcus riskierte noch einen letzten Blick auf Katharinas Antlitz, bevor er die Augen schloss und es um ihn dunkel wurde.

    ~


    Als Marcus mit Jordir an seiner Seite den Schotterabhang zur alten Ausgrabungsstätte hinabstieg, fühlte er sich noch immer wie im Traum. Dabei hatte er unerwartet viel geschlafen, nachdem er zwischenzeitlich in die Hafenstadt zurückgekehrt war. Vielleicht war es aber auch eher eine Ohnmacht gewesen, eine tiefe Erschöpfung und die Schlaflosigkeit der Tage davor, die ihren Tribut gezollt hatten. Jordir war es nach eigenem Bekunden ähnlich gegangen.
    Die beiden Gefährten waren nun in demjenigen Teil der Ruinen des alten Volks von Jharkendar auf der Insel Khorinis angekommen, in dem Alia ihr Lager aufgeschlagen hatte. Sie und die völlig erschöpfte Katharina hatten sich über Nacht dorthin zurückgezogen, da der Weg vom Sonnenkreis, aus dem sie herausgekommen waren, nicht weit gewesen war. Die beiden Männer dagegen hatten an jenem Nachmittag der Rückkehr den Heimweg nach Khorinis angetreten und sich mit den beiden Frauen für den nächsten Tag verabredet. Sie alle hatten Zeit für sich benötigt.
    Als sie in den Schatten der Ruinen und in die von Fackeln beschienenen Gänge traten, sah Marcus auch schon Alia, die – ein Auge verbunden, ansonsten aber äußerlich unversehrt – vor einer Truhe hockte, aus der sie offenbar gerade einen oder mehrere Gegenstände entnommen hatte. Auf dem Bett direkt links daneben saß Katharina. Sie bemerkte die Ankunft der beiden Männer zuerst. Als sie ihr Gesicht zu Marcus drehte, sah er, dass sie wieder eine schwarze Stoffmaske trug, die nahezu ihr gesamtes Gesicht verdeckte. Ihr Blick fiel auf Marcus’ rechten Armstumpf, der nun wieder in einem formunschönen Hemdknoten am rechten Ärmel steckte.
    „Da sind unsere beiden Helden ja“, sagte Alia so gelöst, wie Marcus sie zuvor nicht erlebt und wie er es auch gar nicht für möglich gehalten hatte. Der Magierjägerin war anzumerken, wie froh sie war, dass sie mit dem Leben davongekommen war.
    „Ach, Helden …“, sagte Jordir, dessen Verlegenheit zu einem kleinen Teil eventuell sogar nicht gespielt war.
    Alia schüttelte den Kopf. „Keine Widerrede. Wenn ihr nicht gewesen wärt …“
    „Genau so könnte ich sagen: Wenn das hier nicht gewesen wäre.“ Marcus war nach vorne getreten und hielt Alia den Griff ihres Messers samt Scheide hin.
    Alia schmunzelte. „Ich hätte fast gesagt, dass du es zur Belohnung behalten darfst, aber dafür hänge ich zu sehr an ihm.“ Sie nahm das Messer an und befestigte es an ihrem Gürtel. „Und außerdem haben wir ja etwas anderes für euch.“
    Marcus und Jordir warfen sich gegenseitig einen irritierten Blick zu. Marcus’ Irritation schwand auch dann nicht, als Alia ihm und Jordir je einen Ring in die Hand drückte. Erst, als er den im Ring eingefassten Stein erkannte, verstand er, dass sie beide nicht soeben zu einer spontanen Doppelhochzeit eingeladen worden waren.
    „Der Ring des Wassers sucht immer neue Mitglieder, kann es sich aber nicht leisten, jeden Dahergelaufenen aufzunehmen“, ergriff nun zum ersten Mal Katharina das Wort, während sie sich von Alias Pritsche erhob. „Aber ihr beide habt euch durch eure Fähigkeiten mehr als ausgezeichnet. Herzlich willkommen im Ring des Wassers.“
    „Moment Mal, haben wir da überhaupt ein Mitspracherecht?“, fragte Jordir lachend, hatte sich seinen Aquamarinring aber bereits angesteckt. „Der letzte Verein, in dem ich war, hat mich nach kurzer Zeit schon wieder rausgeschmissen, das ist euch klar, oder?“
    „Du glaubst ja gar nicht, wie viele Rausgeflogene sich in unseren Reihen befinden“, sagte Alia. „Da passt du ganz hervorragend hinein.“
    „Wir werden uns schon morgen früh zurück auf den Weg zum Festland machen“, erklärte Katharina sodann ohne Umschweife. „Auf dem Schiff wären sicherlich noch zwei Plätze für euch frei. Es ist keine Bedingung für eure Mitgliedschaft, aber wenn ihr wollt …“
    Ihr Blick fiel auf Marcus. Der hielt noch immer den Ring in der Hand, ballte diese nun aber zur Faust und umschloss damit fest den Aquamarin.
    „Vielen Dank, aber …“ Er rang für einen Moment nach Worten. „Ich glaube, mein Platz ist vorerst weiterhin auf Khorinis. Ich habe ganz dringend ein Lager auf Vordermann zu bringen, das auf wundersame Weise mehrere Tage ohne mich klargekommen ist, jetzt aber dringend eine ordnende Hand braucht, bevor es aus dem Ruder gerät. Ich hoffe, das kommt jetzt nicht respektlos oder abweisend rüber. Und ich glaube, einen Lagermeister kann man beim Ring auch gut gebrauchen, oder? Irgendjemand muss doch an der Quelle sitzen.“
    Katharina verdrehte ein wenig die Augen und machte zwei Schritte auf Marcus zu. „Ist in Ordnung“, sagte sie dann tonlos, wobei Marcus den subtilen Hauch der Belustigung in ihrer Stimme wahrscheinlich als einziger im Raum erkannte. „Mit uns beiden wäre es wohl sowieso nie richtig was geworden, oder?“
    „Keine Ahnung“, log Marcus. Zum Dank bekam er ein so schönes Grinsen spendiert, dass er es sogar unter Katharinas Maske erkennen konnte.
    Geändert von John Irenicus (13.01.2024 um 11:33 Uhr)

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